Ein Wochenende ist kein Wochenende

Das freie Wochenende ist in unserem Kulturkreis heilig. Dass bald auch am Sonntag eingekauft werden kann, liegt freilich nicht an raffgierigen Kaufkonzernen und nicht an flexibilitätsgierigen Neoliberalen – sondern an den Menschen selbst. Die nutzen ihre freie Zeit durch viele Aktivitäten – und zu ihnen zählt inzwischen auch das Shopping mit der Familie. Ein Essay  ■ von Bernd
Guggenberger

Ob überhaupt das Wochenende für jemanden eine eigene Welt darstellt, darüber entscheidet vor allem, was er die Woche über tut. Das klarste Eigenprofil gewinnt das Wochenende für denjenigen, der von Montag bis Freitag hart arbeitet und die Arbeit, die er verrichtet, nicht gerade mit Inbrunst liebt. Die von der Woche Müh und Last Gezeichneten ersehnen das Wochenende: Thanks God, it's friday!

Für die anderen, die ostentativen Wochenendmuffel, für die ohnehin immer Wochenende ist, gibt es keinen Grund, sich ausgerechnet am Samstag und Sonnabend besonders wochenendkonfrom zu verhalten: etwa (noch) länger zu schlafen oder (noch) mehr fernzusehen, außer Haus zu essen oder sich ganz besonders zu kleiden. Sie können es sich leisten, am sechsten und siebten Tag auch mal zu Hause zu bleiben – sich nicht auch noch im überfüllten Schwimmbad zu tummeln, den Ausstellungsbesuch auf Donnerstag vorzuziehen und einzukaufen, wenn das arbeitende Volk zur „Steigerung des Bruttosozialprodukts“ gerade mal wieder „in die Hände spuckt“.

Über die „Welt der Wochenenden“ zu sprechen ist deshalb nicht ganz einfach, weil es am Wochenende einfach alles gibt – und auch das Gegenteil von allem! Ruhe, Beschaulichkeit und spießig-fromme Häuslichkeit nicht weniger als hektische (Auto-)Mobilität, Erlebnisprasserei und körperliche Verausgabung bis zum Exzess; Muße und Kontemplation, ebenso wie die Flucht in den Zweitjob oder die Schwarzarbeit; es wird gemeinschaftlich gesungen, musiziert und gelesen. Es wird aber auch, und zwar ungleich häufiger, zu Hause und in der Vereinzelung die Video- und Fernsehdroge konsumiert – mit bis zu einem guten Dutzend Spielfilmen an einem einzigen Wochenende; man geht spazieren, besucht das Theater oder ein gutes Restaurant. Aber man bleibt auch zu Hause, schläft länger und macht sich in den eigenen vier Wänden wieder einmal nützlich; man bleibt allein, aber man erinnert sich auch gerade am Wochenende gern, dass der Mensch „keine Insel“ ist, dass er Freunde hat und Verwandte, Kinder, Enkel, Tanten und Großeltern, die man alle „übers Wochenende“ immer schon besuchen wollte. Man treibt Sport, aber man erholt sich auch und ruht sich aus; gerade noch jeder Zehnte „heiligt“ den Sonntag im herkömmlichen, religiösen Sinn des Wortes, für die anderen ist er ein anderer Begriff für Familie und Freunde, für Fußball und Skat.

Es gibt keine einheitliche Wochenendkultur mehr. Wer am Sonntagmorgen, sagen wir um elf Uhr, seine Wohnung verlässt, wird ganz unterschiedlich gewandeten Freizeitzeitgenossen begegnen, von denen (fast) jeder (fast) irgendwo anders hin unterwegs ist: Wenige nur noch (deutlich unter zehn Prozent!) folgen dem Sonntagsruf der Kirchenglocken – und auch sie sind längst nicht mehr, wie noch die Generation ihrer Eltern, eindeutig am feierlich-dunklen Kirchgangsgewand zu erkennen. Der Trend zu kirchenfreiem Wochenende verstärkt sich etwa im selben Maße wie der Trend zur „kinderlosen Freizeitkultur“. Es sind nicht mehr die Familien mit Kindern, die das Bild des Wochenendes prägen. Das Wochenende ist, aller Erlebnisorientierung zum Trotz, „erwachsen“ geworden; und es hat seinen Charakter vom eher Häuslich-Musischen zum Aushäusig-Sportiven hin verändert, vor allem zu den professionellen und geräteintensiven Leistungs- und Unterhaltungsofferten. Gewiss gibt es hier Unterschiede zwischen Stadt und Land, doch diese beginnen zu verblassen. Dies gilt vor allem für die Generation der 14- bis 29-Jährigen. Deren „Wort zum Sonntag“ lautet mit entwaffnender Offenheit: „Der Tag, an dem ich ausschlafen kann.“

Doch wenn 38 Prozent der befragten Jugendlichen vor allem dies zum Stichwort „Sonntag“ einfällt, sind sie vielleicht gar nicht so weit von der ursprünglichen christlichen Sonntagsbestimmung entfernt, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Denn auch der Schöpfer „ruhte“ bekanntlich nach sechs anstrengenden Schöpfungstagen, betrachtete sein Werk und sah, „dass es gut war“.

Der jüdische Sabbat, der christliche Sonntag, der muslimische Freitag – das sind alles Versuche des Menschen, sein soziales Zeitregime mit der kosmischen und geophysikalischen Zeitordnung zu synchronisieren. Dem Sonntag hat sich in diesem Jahrhundert der von der Arbeiterbewegung erkämpfte freie Samstag zugesellt. Beide Tage sind zu einer „kulturellen Einheit“ zusammengewachsen: „Seit es den freien Samstag gibt“, schreibt der Theologe Friedhelm Hengsbach, „hat sich die Gestalt des Sonntags verändert, hat sich eine profilierte Wochenendkultur herausgebildet. So ist der Samstag von Eigenarbeit am Haus, im Garten, mit dem Auto geprägt, vom gemeinsamen Einkaufen in der Innenstadt am Morgen, vom Erlebnis einer durch Flohmärkte, Straßentheater, politische Infostände gewandelten Innenstadt, von häuslicher Kommunikation am Nachmittag, von außerhäuslichen Veranstaltungen für die jüngere Generation am Abend. Der Sonntag hat demgegenüber Merkmale eines langsameren Lebens angenommen: Ausruhen, Sport, Gottesdienst, gemeinsame Mahlzeiten, Besuche, Reisen.“

Trotz aller Kritik: Die Errungenschaft des freien Wochenendes, so Hengsbach, ist ein bedeutsames „Abwehrsignal gegen den Totalitätsanspruch der Wirtschaft. Erwerbsarbeitsfreier Samstag und Sonntag sind Tage der eigenen Identität.“

Innehalten, sich die Zeit zum Bilanzieren und zum vergleichenden Betrachten nehmen – dies sind nach wie vor höchst aktuelle Sonntagsbestimmungen. Daß allerdings von der Beschaulichkeit alter Zeiten noch viel lebendig ist, mag man bezweifeln: Auch, ob das sonntägliche Schlafbedürfnis noch dem „Werk der Woche“ geschuldet ist oder nicht doch mehr dem Saturday Night Fever.

Dennoch: Das freie Wochenende, so, wie wir es noch immer kennen, strukturiert unsere gesellschaftliche Zeit. Ihm verdanken wir als Ruhepol und Rhythmusgeber zu einem gar nicht zu überschätzenden Teil auch unsere gesellschaftliche Identität. Es sind vor allem zwei – scheinbar gegensätzliche – Tendenzen, die – jetzt und künftig – das vertraute Bild des „freien Wochenendes“ von Grund auf erschüttern könnten: Da ist zum einen die drastische Verkürzung der Jahres- und Lebensarbeitszeit, die über die ebenfalls nicht unerhebliche Verkürzung der individuellen Wochenarbeitszeit noch deutlich hinausgeht: Ein Menschenleben mit einer statistischen Lebenserwartung von 75 Lebensjahren umfasst rund 650.000 Stunden, und gegenwärtig wird, mit deutlich abnehmender Tendenz, nur noch zirka 55.000 Stunden gearbeitet – das sind bereits deutlich weniger als neun Prozent der gesamten Lebenszeit! Und auch dieser Anteil wird schrumpfen. Die durchschnittliche Erwerbsstundenzahl könnte auf weniger als 35.000 Stunden pro Arbeitsleben sinken, also gerade noch etwas mehr als fünf Prozent der gesamten Lebenszeit betragen!

Wer nur noch fünf Prozent der gesamten Lebenszeit arbeitet – für den dehnt sich das Leben gewissermaßen zu einem nicht enden wollenden Wochenende. Ein Erwerbstätiger schläft heute schon, auf die Jahresarbeitszeit bezogen, doppelt so lang, wie er arbeitet: Von den insgesamt 8.760 Stunden des Jahres wendet er für die Arbeit noch knapp 1.500 Stunden auf, fürs Schlafen knapp 3.000!

Hieran wird deutlich: Nicht nur für Arbeitslose, Rentner und Studenten, auch für den ganz normalen Erwerbstätigen erobert die Wochenenderfahrung immer weitere Bereiche des Alltags. Wenn aber „alles“ Wochenende wird – ist nichts mehr Wochenende. Denn gerade das Außeralltägliche begründet ja seinen Reiz. Wenn der Wochenalltag wie das Wochenende anfängt, kann die Woche sich auch nicht mehr zum Wochenende runden. Dem Wochenende droht der sanfte Tod des Erfolges: des gleichförmigen, immer währenden Wochenendtriumphes.

Zum anderen geht es dem arbeitsfreien Wochenende an den Kragen, weil die Unternehmen aus Wettbewerbs- und produktionstechnischen Gründen immer ungeduldiger sein Ende fordern. Für die einen – so für den früheren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine in Übereinstimmung mit der IG Chemie – ist Wochenendarbeit unvermeidlich, für die anderen – so für den Altbundeskanzler Helmut Kohl (und die meisten Gewerkschaften) – bleibt der Sonntag heilig.

Wie die Lockerung der Ladenschlusszeiten aber zeigt, wird das arbeitsfreie Wochenende wohl auf Dauer schwerlich dem Sog der kontinuierlich aktiven Gesellschaft mit ihrem linearen Nachfrage-und-Angebots-Verhalten widerstehen können. Die großen Städte fungieren immer mehr als „Taktgeber“ auf dem Weg in die Kontinuitätsgesellschaft, das heißt in die rund um die Uhr und rund um die Woche aktive Gesellschaft. Sie nötigen nach und nach auch peripheren Regionen ihr Zeitregime auf und zwingen sie, sich aus den angestammten Rhythmen der Natur, dem Puls der Jahreszeiten, Nacht und Tag, Aussaat und Ernte, zu lösen. „Der Sieg über die Sonne“, als den die russische Avantgarde einst das Leninsche Elektrifizierungsprogramm feierte, könnte im „Sieg über den Sonntag“ seine ironische (postsozialistische) Vollendung finden – in der förmlichen Anerkennung, dass der wirtschaftlichen Produktivität nun das letzte Wort in der Sache der sozialen Zeitordnung gebührt.

In dieser Perspektive verschwände das Wochenende, weil die Gesellschaft nicht mehr bereit ist, den Preis für diese Form des gesellschaftlichen Zeitwohlstandes zu bezahlen. In Wahrheit aber verschränken und verstärken sich beide Tendenzen wechselseitig, denn eine freizeitaktive und konsumtive Wochenendgesellschaft zwingt gleichzeitig eine immer größere Anzahl ihrer Mitglieder dazu, für die anderen das Riesenrad zu drehen und die Pizza zu backen. Schon heute sind die Abweichungen vom „Normalarbeitstag“ enorm. Die Flexibilität ist viel größer, als es die öffentliche Meinung wahrhaben will: Jeder fünfte Erwerbstätige hat keine Fünftagewoche, jeder vierte verrichtet Schichtarbeit, Teilzeitarbeit ist für viele erwerbstätige Frauen der strategische Normallfall, inzwischen verstärkt auch an den Wochenenden.

Hauptgrund für die deutliche Zunahme der Dienstleistungsarbeiten am Wochenende ist die eben drastisch gestiegene Nachfrage der neuen Wochenendgesellschaft, die informiert und unterhalten, bedient und betreut, verpflegt und versorgt sein will.

Bernd Guggenberger, Jahrgang 1949, zeitweilig in der Schweiz lebend, ist unter anderem Professor für Politische Wissenschaften in Berlin. 1998 erschien sein Buch „Sein oder Design. Im Supermarkt der Lebenswelten“. Rotbuch, Hamburg 1998, 301 Seiten, 38 Mark