Baumleichen am Wegesrand

Auf den Queen-Charlotte-Inseln fallen täglich 500 Bäume. Die Totempfähle der Indianer nicht mehr – sie sind unantastbar in dem pazifischen Nationalpark  ■   Von Gernot Knödler

Leigh Olsen fällt alle 30 Sekunden einen Baum und braucht sich dabei kaum zu bewegen. Per Joystick und Knopfdruck steuert der drahtige Arbeiter einen Baggerarm mit Fällmaschine: Knapp über der Erde umklammert sie den Baumstamm, schwenkt eine Motorsäge durch ihn hindurch und hebt ihn in die Luft. Kettenbespannte Walzen treiben das Holz durch den Apparat und fräsen die Äste ab. Im Idealfall schafft Olsen auf diese Weise 500 Bäume am Tag – der Rekord unter den Holzfällern der Firma MacMillan Bloedel auf den Queen-Charlotte-Inseln vor der Pazifikküste Kanadas.

Zwischen Vancouver Island und Alaska gelegen, bilden die rund 150 Inseln und Inselchen ein nach Süden gerichtetes spitzes Dreieck von 300 Kilometer Länge. Vom Hauptstrom des Tourismus müssen sie erst noch entdeckt werden: Nur etwa 10.000 Touristen besuchen die Inseln pro Jahr. Sie führt vor allem eines her: der Reichtum an Fischen, Muscheln, Krebsen, Wild und Wald. Die Chancen, einen Buckel-, Grau- oder Killerwal zu sehen, stehen gut, Weißkopfseeadler sind tägliche Begleiter, und die Gezeitenzone ist so reich an Leben, dass sich eine besondere Art von Schwarzbären herausgemendelt hat: Sie sind überdurchschnittlich groß und ihre Kiefer besonders stark.

Der Wald, der gleich hinter dem Ufer beginnt, ist ein ganz besonderes Ökosystem: Ein „kalter Regenwald“ – die Antwort Nordamerikas auf den Dschungel des Amazonas. Mehr als 600 Jahre alt sind manche der Zedern, die hier wachsen, und bis zu 300 Jahre alt die Fichten. Stürzt einer dieser Riesen, bleibt er jahrzehntelang auf dem Waldboden als Erhebung erkennbar. Auf dem toten Stamm leben Pilze, Moose, Farn und Babybäumchen. Zuweilen wächst ein junger Baum auf dem Stumpf eines alten und saugt die Nährstoffe aus der Leiche. Bis ein solcher Wald nachgewachsen ist, dauert es tausende von Jahren – wenn die dünne Erdschicht, auf dem er steht, nach dem Kahlschlag abgewaschen wird, noch ein paar tausend mehr. Wie früher wird er nie wieder.

Das, womit der Holzfäller Leigh Olsen seit 25 Jahren seine Brötchen verdient, treibt Umweltschützern deshalb den kalten Schweiß auf die Stirn. Olsens Arbeitgeber hat von der Regierung der kanadischen Provinz Britisch-Kolumbien das Recht erworben, knapp ein Viertel der Inselfläche – sie ist knapp viermal so groß wie das Saarland – abzuholzen: 2.400 von mehr als 10.000 Quadratkilometern. Gut die Hälfte roden andere Konzerne und Privatleute. Nur 14 Prozent der Gesamtfläche im Süden sind nach langen Kämpfen als „Nationalpark-Reservat Gwaii Haanas“ ausgewiesen worden und somit unantastbar. Seit Mitte der siebziger Jahre hatte der Indianerstamm der Haida darum gekämpft, sein angestammtes Territorium vor weiterer Zerstörung zu bewahren.

Fast überall auf den Inseln kann ein geschultes Auge Spuren von alten Siedlungen oder Lagerplätzen der Haida finden, an einem halben Dutzend Stellen auch der Laie. Das am besten erhaltene Dorf, „Ninstints“ auf der abgelegenen Insel Skung Gwaii, ganz im Süden des Archipels, wurde 1981 von der Unesco zum „Weltkulturerbe“ erklärt – das beeindruckendste Zeugnis von der Vergangenheit dieses einst stolzen Kriegervolkes, das erst im Kampf um Haida Gwaii wieder zu einer politischen Größe wuchs. Nach Ninstints führt kein Weg. Nicht nur, dass das ehemalige Dorf auf einem eigenen Inselchen liegt. Auf allen 150 Inseln gibt es ohnehin nur 150 Kilometer öffentliche Straßen, ein paar hundert Kilometer geschotterte Holzfällerwege und im bergigen Nationalpark nur wenige hundert Meter Pfade. Wer auf Skung Gwaii landen will, ist daher auf Wasserflugzeug oder Boot angewiesen.

Eine Cessna fliegt vom Zentrum der Inselgruppe in einer knappen Stunde an die Südspitze. Dort wartet in einer geschützten Wasserstraße Götz Hanisch, ein Aussteiger aus Deutschland, mit seinem Motorschlauchboot. Auf der Mittelbank seines „Zodiac“ reitend prescht er über Zweimeterwellen, dass die Gischt spritzt. Seine Passagiere sitzen in dick wattierten Overalls auf den Seitenwülsten und hoffen, dass sie nicht ins kalte Meer fallen. Noch schöner ist die Anreise im Seekajak. Boote und Touren von ein bis zwei Wochen Länge werden im Ort Queen Charlotte angeboten. Kajakerfahrung wird nicht vorausgesetzt. Wer auf eigene Faust aufbrechen möchte, sollte allerdings Seekarten lesen und unter widrigen Bedingungen navigieren können. Denn die Wetter- und Strömungsverhältnisse können sich hier von einem Augenblick auf den anderen ändern.

Der Lohn für die Seereise ist pure Wildnis. Von den wenigen Menschen, die mit der Fähre vom Festland kommen, schafft es nur ein Bruchteil in das wilde Nationalparkreservat. Jeder der 140 Gäste, die sich gleichzeitig im Park aufhalten dürfen, wird in einer zweistündigen Pflichtveranstaltung mit dem Schutzgebiet vertraut gemacht: Wo lauern Gefahren? Was gehört zur Notfallausrüstung? Welche Regeln gelten im Park? Von den Besuchern soll möglichst keine Spur in der Natur zurückbleiben. Als rechter Ort für die Notdurft gilt die Gezeitenzone, so dass die nächste Flut den Strand von den menschlichen Ausscheidungen reinwaschen kann. Und es gilt: „Pack out, what you packed in!“ Sonst aber nichts: Pflanzen, Steine und Tiere müssen bleiben, wo sie sind.

Ninstints, das Indianerdorf, ist nicht zuletzt deshalb zum Weltkulturerbe erklärt worden, weil die Haida diese Regel durchzusetzen begannen. Aus den Totempfählen in ihren ehemaligen Dörfern hatten Archäologen und Völkerkundler zuvor die interessantesten Skulpturen herausgeschnitten oder gar komplette Totempfähle abtransportiert. Heute ist das verboten. Knapp hinter dem flachen Halbrund einer geschützten Bucht stehen die Totempfähle in einer Wiese. Einige sind umgestürzt, manche notdürftig abgestützt, alle stark verwittert. Dennoch sind auf vielen die Schnitzereien noch zu erkennen: Menschen und Tiere hocken aufeinander, sie fressen sich gegenseitig oder kriechen auseinander hervor. Man sieht stilisierte Raben, Adler, Bären, Wale und Wölfe. Die Totempfähle standen meist vor der Giebelspitze oder an den vorderen Ecken der Haida-Langhäuser. Das waren großzügige Konstruktionen mit vier mächtigen Baumstämmen an den Ecken. Im hinteren Teil der Wiese steht der verfallene Rest eines solchen Baus. Dass sich der Urwald mit seinen Moosen, Pilzen und Schlingpflanzen die Balken und Totempfähle des alten Dorfes langsam zurückholt, gehört für die Haida zum Lauf der Welt.

Aber nicht nur aus diesem Grund wollen manche Stammesmitglieder die Original-Totempfähle aus den Museen zurückhaben. Nach mehreren von den Europäern eingeschleppten Seuchen war die Zahl der Haida im vergangenen Jahrhundert bis auf 900 Köpfe gesunken. Bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts hinein versuchte die kanadische Regierung, die Haida auch als Nation zu vernichten: Ihre Kinder wurde in Internate gepresst, wo ihnen verboten wurde, ihre Muttersprache zu benutzen. Alles Indianische wurde so stark abgewertet, dass sich die Generation der 40- bis 60-Jährigen noch heute schämt, die eigene Sprache zu sprechen. Haida-Künstler seien gerne bereit, Kopien der Totempfähle anzufertigen, sagt eine Indianerin, die das Weltkulturerbe bewacht und seine Gäste betreut. Der Versuch, die Haida-Kultur auszulöschen, soll auf diese Weise ein Stück wieder gutgemacht werden.

Der Rückflug von Gwaii Haanas macht augenfällig, warum es kaum Pfade auf den Inseln gibt: Jäh steigen aus dem Meer Gipfel mit zum Teil mehr als tausend Meter Höhe. Eine Vielzahl von Fjorden und Kanälen zerklüftet das Archipel. Schmale Schneisen im Wald zeigen an, wo sich die dünne Erdkrume nicht halten konnte und samt dem Wald in die Tiefe gerutscht ist. Weiter im Norden sind dem Wald großflächige Wunden geschlagen worden. Bereits aus der Luft wirkt das schrecklich; am Boden klettert der Tourist durch eine Trümmerlandschaft aus grauen, ausgebleichten Wurzelstümpfen und Stämmen. Es sieht aus wie auf einem Elefantenfriedhof.

Suki Davis, eine schlanke blonde Frau, die uns in einem Besuchermobil der Holzfirma MacMillan Bloedel durch den Forst fährt, kam vor sieben Jahren auf die Queen-Charlotte-Inseln, um Bäume zu pflanzen. Die Holzfirmen sind zur Aufforstung verpflichtet und beschäftigen PflanzerInnen aus ganz Kanada. Zehn Cent zahlt „MacBlo“ pro Setzling; ab 1.000 Bäumen am Tag beginnt sich der Job zu lohnen.

Suki haben es die kernigen Holzfäller angetan und das Leben am Rande des Ozeans, wo jeder jeden kennt und keiner die Haustür abschließt. „I fell in love with the industry“, sagt sie. Dass Greenpeace Kanada wegen der wälderfressenden Industrie zum „Brasilien des Nordens“ erklärt hat, ficht sie nicht an. „Wir alle schreiben auf Papier“, sagt die heutige Pressefrau von MacBlo. Im Übrigen habe ihre Firma nach den massiven Protesten gegen Abholzungen auf Vancouver Island strenge Umweltschutzrichtlinien eingeführt. Kahlschläge seien jetzt auf 40 Hektar begrenzt. Dazwischen müssten unversehrte Streifen stehen bleiben, in denen Tiere und Pflanzen Zuflucht finden.

Dass Sukis Holzfällerkollege Leigh Olsen seinen Job verliert, ist einstweilen nicht in Sicht. Zwar sind 12 Prozent des Waldes in Britisch-Kolumbien bereits einmal abgeholzt worden und wieder nachgewachsen. Vielfach wird bereits heute dieser Sekundärwald ein zweites Mal gerodet. Doch auf die Zerstörung des Urwaldes will die Forstindustrie außerhalb von Schutzgebieten wie Gwaii Haanas nicht verzichten. Noch bringen die großen alten Bäume unvergleichlich viel Profit.

Anreise: Von Prince Rupert per Fähre zu den Queen Charlottes. Reservierung bei BC Ferries, Telefon: +1-250-386-3431 oder +1-604-669-1211; Fax: +1-250-381-5452. Wegen der begrenzten Zulassung von Leuten im Nationalpark-Reservat ist es auch hier wichtig, sich zeitig anzumelden; Tel.: +1-250-387-1642. Eine geführte neuntägige Bootstour einschließlich Ausrüstung und Essen kostet rund 2.300 Mark. Infos dazu u. a. bei www.island .net/infobus/qca ; Telefon: +1-250-559-8990 oder www.gwaiihaanas.com . Die Netzadresse des Nationalpark-Büros ist: http://fas.sfu.ca/parkscan/gwaii ; Telefon: +1-250-559-8818.

Bis der Wald nachgewachsen ist, dauert es tausende von Jahren – bei der dünnen Erdschicht oft noch ein paar tausend mehr