Obskuritätenkabinett

Erlebniskauf im Freundeskreis: Auf drei Stockwerken bietet „Reis“ Elektronik, Filme und Klamotten an  ■ Von Michael Hess

Im April kursierten im Viertel bereits die wildesten Gerüchte. Jeder rätselte, was sich wohl hinter den hohen Schaufenstern in der Wohlwillstraße 20 abspielt. Einige tippten zunächst auf Filmverleih. Andere auf Plattenladen, Trödler, Schachclub, Stadtteilkino oder Café. Und manche waren sicher, hier eine ABM-Maßnahme für arbeitslose Slacker entdeckt zu haben. Die Lösung liegt wie immer irgendwo dazwischen und fängt zunächst mit Andreas und Matthias an. Die suchten die passenden Räume für Reis, ihren Plattenladen für Elektro, Headz, Hip Hop und vornehmlich Vinyl. Sie fanden sie in der ehemaligen Fleischerei in der Wohlwillstraße. Drei Stockwerke St. Pauli-Altbau, strategisch günstig gelegen zwischen Schanze und Kiez. Vorher tummelte sich hier die Redaktion eines Werbeblättchens. „Das war totale Platzverschwendung“, empört sich Andreas nachträglich. „Mit diesen schönen Räumen konnte man vielmehr machen.“ Das meinte auch Mario, der zusammen mit einem Freund dringend eine Schmalfilmsammlung unterzubringen hatte. So zog 08/16 Industrie mit ein. Und wenn bald im ersten Stock ein Kleidermarkt aufmacht, ist die Shopping-WG komplett: „Ein Pärchen hat in den USA einen ganzen Container voll Klamotten eingekauft und wartet nur noch bis das Zeug hier ist.“

Erlebniskauf im Freundeskreis. Tatsächlich gilt es beim Betreten des Ladens erst eine gewisse Hemmschwelle zu überwinden. Nicht jeder platzt gerne in ein Wohnzimmer, in dem manchmal noch gefrühstückt oder auch Schach gespielt wird. Links die Plattenkisten, rechs ein kleiner Ständer mit Super8-Filmen, an der Wand ein Computer. Mitten im Raum ein Tisch – das Büro von Andreas. „Jeder kann mir auf den Schreibtisch gucken, ich habe nichts zu verbergen.“ Ganz im Gegenteil: letztes Mal durfte er sogar Mouse On Mars sein schmuckes Platten-Sortiment zeigen. Zwar kauften die beiden Elektronik-Helden dann doch nur zwei Filme bei Mario, doch immerhin sorgte der hohe Besuch dafür, dass Reis mit einer Playlist in der aktuellen Spex vertreten sind.

Richtige Werbung kann man sich ohnehin nicht leisten. Der Umsatz hält sich noch in Grenzen und nur von Reis kann Andreas nicht leben. Doch egal. Er ist zuversichtlich, mittels Mund-zu-Mund-Propaganda die nötige Kundschaft anzuziehen. Wem fällt bei soviel Pioniergeist und Hoffnung nicht Tocotronics „Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut“ ein. Tatsächlich ist die Firmenphilosophie des Ladens eher von spontaner Pragmatik, als von weitreichendem Geschäftskalkül geprägt. So kam Mario eher zufällig in den Besitz dieser riesigen Schmalfilm-Sammlung, die sich leicht verstaubt und angerostet im Keller stapelt. Der Albtraum einer Cinemathek. „Alles ungesichtet, ungeordnet und nicht beschriftet“, stöhnt Mario in der Gewissheit, dass ihm in den nächsten Monaten die Arbeit nicht ausgehen wird. In erster Linie Industriefilmchen, Werbestreifen, Unterrichtsmaterial, Privataufnahmen, einige Pornos sind dabei. Aber auch so manche Rarität, wie beispielsweise die Super8-Orginalfassung des Romero-Klassikers Zombie. Eher heiter und obskur der Rest. Von der sicher lehrreichen Dokumentation über die Knicklandschaft von Schleswig-Holstein bis hin zu einer TUI-Werbung über Montenegro.

Mit einem der unzähligen Projektoren und dem alten 16mm-Schnittplatz wird das Material gesichtet und dann im Computer archiviert. „Manchmal kommen halt Leute, die leidenschaftliche Sammler von Eisenbahnfilmen sind. Andere wiederum wollen einfach nur irgendeine Endlosschleife zur Unterlegung der nächsten Party“, weiß Mario zu berichten. Zukünftig will er den Katalog via Internet sogar weltweit anbieten. Doch wer persönlich vorbei kommt, kann das ausgesuchte Material noch vor Ort sichten. Oder einfach darauf warten, bis es dunkel wird auf St. Pauli. Mit etwas Glück verwandelt sich der rätselhafte Laden dann doch noch einmal. Etwa in ein gemütliches Heimkino. Mit 08/16-Filmen und elektronischen Reis-Klängen zur Untermalung. Nur die Garderobe aus dem ersten Stock, die wartet noch im Container.