Es gab auch Nichtgewerkschaften

■ Ein Historiker schließt Lücken in der Geschichte der Arbeiterbewegung

Bücher zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sind aus der Mode gekommen. Der „Abschied vom Proletariat“ (A. Gorz) ist real, Erwartungen an einen Fortschritt aus dieser Tradition heraus haben sich weitgehend verflüchtigt. Die Arbeiten von Peter Russig jedoch verdienen Aufmerksamkeit. In seiner Geschichte des Dresdener Gewerkschaftshauses etwa durchbricht der Diplomhistoriker gleich mehrere Tabus deutscher Gewerkschaftsgeschichtsschreibung. Die Nichtgewerkschaften DAF (Deutsche Arbeitsfront) und FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) werden ebensowenig ausgespart wie der 1. Mai 1933, zu dem Weimarer Arbeiterorganisationen gemeinsam mit den Nazis aufriefen.

Das ist dem Gegenstand geschuldet: Schließlich residierten im heutigen Dresdener DGB-Haus auch die NS-Zwangsorganisation und der KP-Transmissionsriemen. Bislang jedoch sind mir keine offiziellen Darstellungen der Geschichte eines Gewerkschaftshauses bekannt, in denen etwa beschrieben wird, dass 1933 das „Gros der verunsicherten Gewerkschaftsangestellten (...) weiterbeschäftigt“ wurde. Schade, dass Russig die weiteren Übergänge – 1945 und 1989 – nicht so klar beschreibt.

Es geht dem Autor – Mitglied der Historischen Kommission der SPD und des sächsischen DGB-Gesprächskreises Gewerkschaftsgeschichte – natürlich auch um die Pflege von linken Traditionen im weitesten Sinne. Dies zeigt sich besonders in seinem Buch über den Sozialdemokraten Wilhelm Grothaus (1893 – 1966), der 1943 wegen illegaler Organisationstätigkeit ins Dresdener Landgerichtsgefängnis gesperrt wurde und auf sein Todesurteil wartete. Während des Bombenangriffs auf Dresden im Februar 1945 konnte er fliehen, später wurde er als „bewährter Widerstandskämpfer“ in die SED übernommen. Russig sieht in ihm vor allem „den Sozialisten, der seine Hoffnungen auf eine bessere Welt nach den traumatischen Erfahrungen der Nazizeit in das Experiment DDR investierte“.

Als er jedoch 1950 in die Mühlen innerparteilicher Säuberungen geriet, legte er seine Ämter nieder und war führend am 17. Juni 1953 beteiligt. Dafür wurde Grothaus wegen „Boykotthetze“ und „faschistischer Propaganda“ angeklagt. In dem selben Saal, in dem er bereits von den Nazis verurteilt worden war, belegten ihn nun SED-Richter mit 15 Jahren Haft. 1960 wurde er im Rahmen einer Amnestie entlassen und ging noch vor dem Mauerbau in den Westen – wo er in der SPD aktiv wurde.

Russig verfällt manchmal der typischen Historikerkrankheit: zuviel Verständnis. So behauptet er in einer Nebenbemerkung zur Geschichte des Dresdener Gewerkschaftshauses, dass Un- oder Mitschuld ehemaliger FDGB-Funktionäre „von Herkunft, Alter und politischem Standort des Betrachters“ abhingen. Doch Fakten biegt er sich nicht zurecht. Beide Arbeiten sind deshalb empfehlenswert. Martin Jander

Peter Russig: „Das Dresdener 'Volkshaus‘ der Gewerkschaften 1902 – 1999“. Dresden 1999, Hrsg.: DGB-Kreis Dresden Ders.: „Wilhelm Grothaus“. Dresden 1997, Hrsg.: Der Sächsische Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR