■ Taiwan: Wie ernst ist die Krise um die Straße von Formosa?: Vorboten des Kalten Krieges
Noch ist kein Flugzeug vom Himmel gefallen, doch über der nur hundertsechzig Kilometer breiten Seestraße zwischen Taiwan und dem Festland treiben chinesische Piloten seit Wochen ein gefährliches Spiel. Ganz dicht fliegen sie von beiden Seiten an den gegnerischen Luftraum heran, nur um im letzten Moment wieder abzubiegen. Ein Schuss – und der Kalte Krieg könnte in Asien viel schneller Realität werden, als es die meisten heute erwarten.
Ein wenig ähneln die Unwägbarkeiten um die Straße von Formosa heute denen in Berlin vor dem Mauerbau. Vor 1961 war der Kalte Krieg nicht festbetoniert, auf beiden Seiten gab es noch Pläne zur Annäherung. Von diesen Plänen, sofern sie heute China betreffen, halten vor allem die Taiwanesen nichts. Das reiche Inselvolk von knapp über 20 Millionen Menschen würde sich am liebsten mit Haus und Hof vor die kalifornische Küste wünschen. Dort wäre man den Schatten der 1,25 Milliarden Landsleute endlich los, die danach dürsten, in taiwanesischen Verhältnissen zu leben.
Doch leider lässt sich eine Insel nicht übers Meer fahren. Unter diesen Umständen hat sich der taiwanesische Präsident Lee Teng-hui für das Modell Kalter Krieg entschieden. Sein Plädoyer für die Zweistaatlichkeit, das die jüngste Krise samt den täglichen Kriegsgebärden zwischen beiden Chinas heraufbeschwor, will die gleiche Klarheit schaffen, die der Mauerbau in Berlin unter Beweis stellte. Bald darauf mussten die Westdeutschen die staatliche Eigenständigkeit der DDR anerkennen. Eskaliert die Taiwan-Krise weiter, wird auch Peking eines Tages den Inselstaat anerkennen müssen.
Unterwegs aber drohen dem größten Volk der Welt etliche Zerreißproben. Schon kriselt es in der Volksrepublik. Mehr denn je in den letzten zehn Jahren fühlt sich das kommunistische Regime in die Enge getrieben. Noch im April war der Pekinger Premierminister Zhu Rongji guten Willens zu einer Reise nach Amerika aufgebrochen, bei der beide Seiten eine Einigung über den Beitritt Chinas in die Welthandelsorganisation (WTO) vorsahen. Erst in letzter Minute verweigerte der amerikanische Präsident Bill Clinton aus innenpolitischen Erwägungen seine Unterschrift. Als wenige Wochen später amerikanische Raketen die chinesische Botschaft in Belgrad trafen, befand sich die zuvor stabile Regierung unter Zhu und seinem Gönner, Partei- und Staatschef Jiang Zemin, in einer schweren Krise. Den gescheiterten WTO-Vertrag nutzten die Reformgegner in der Partei, um Zhus Marktstrategien auszuhebeln.
Das Botschaftsbombardement stellte Jiangs wichtigste außenpolitische Entscheidung der letzten Jahren, nämlich die mit Clinton vereinbarte „strategische Partnerschaft“, wieder in Frage. Hinzu kamen die indirekten Folgen der Wirtschaftskrise: Völlig überrascht reagierte die Regierung auf die sich aus Reformverlierern rekrutierende Kultbewegung Falun Gong. Zum ersten Mal seit dem Tod von Deng Xiaoping schien die Führung unter Jiang zugleich außenpolitisch bedrängt und innenpolitisch bloßgestellt. Und genau diese Stunde der Schwäche nutzte Taiwans Präsident zur Generalattacke.
Man kann sich die Frustration im Politbüro gut vorstellen, als den Parteimächtigen auf die Vorstöße des taiwanesischen Präsidenten keine andere Antwort blieb als Flugmanöver und Propaganda. Denn natürlich sind die Volksrepublik und Taiwan heute de facto zwei Staaten. Dass es die Welt auf dem Papier anders sieht und Taiwan keinen Platz in den Vereinten Nationen gönnt, liegt allein an der strategischen Doppeldeutigkeit der chinesisch-amerikanischen Annäherung. Nixon und Mao handelten 1972 den Kompromiss aus, der das Verhältnis der Großmächte auf Kosten der Anerkennung Taiwans normalisierte.
Je reicher und demokratischer die Taiwanesen nun werden, desto weniger wollen sie diesen Kompromiss akzeptieren. Gäbe es in Asien eine Nato, hätten sie längst die Aufnahme beantragt. Und doch: Die Welt dreht sich nicht um eine kleine Insel, zumal eine, der es so gut geht wie Taiwan. Je schwächer das Regime in Peking, desto gefährlicher ist es, die Kommunisten zu provozieren. Niemand ist derzeit wirtschaftlich an Krieg in der Region interessiert. Doch fehlende Wirtschaftsinteressen verhinderten auch den Krieg im Kosovo nicht. Georg Blume
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