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Der Dichter und die Müllabfuhr

■ Living Stage zeigt einen springend multimedialen „Kleist“ im Theaterprobenhaus Mitte

Wenn Sie einmal sehen möchten, wie junge Mädchen seit bestimmt 200 Jahren nicht mehr durch den Sommer springen, bewegen Sie sich zum Theaterprobenhaus Mitte. Dort auf dem Dachboden, wo verblichene Schriftzüge an den Wänden auffordern, aktiv am einheitlichen, demokratischen, friedlichen Deutschland zu bauen, kichert eine gemsenartig hüpfende Frau im weißen, wallenden Kleid von Dachstuhlträger zu Dachstuhlträger. Kurz. Zum Einstieg. Dann ein Blackout, und dieselbe Frau steht vor einer lebensgroßen Videoprojektion, die sie um den Wannsee springend zeigt. Vielleicht springt auch nur die Kamera, das ist vor lauter shaky handycam nicht genau auszumachen. Hier spricht der Regisseur, lautlos. Was Sie sehen, sagt er, ist ein Zeitsprung. Und die Zeiten haben sich geändert.

„Kleist“ heißt das Multimediaprojekt der Living Stage, eines von Michael Ritz initiierten Zusammenschlusses von Künstlern verschiedener Sparten. Er selbst arbeitet als Regisseur, früher als Assistent bei Heribert Sasse und Hansgünther Heyme, zuletzt im Roten Salon der Volksbühne. Auch die Schauspielerin Sophia Ryssèl, die den Abend solo gestaltet, kann in ihrer Biographie mit einer Reihe illustrer Namen aufwarten: Sie arbeitete mit Einar Schleef, Elke Lang sowie dem belgischen Reduktionisten Jan Fabre. Das live spielende Ensemble Art de fakt hatte kürzlich die Ehre, den amerikanischen Schriftsteller Raymond Federman zu begleiten, und der Videofilmer Roland Storm hat schon in Oberhausen einen Preis gewonnen. Der gemeinsamen Arbeit, die seit Donnerstag unter dem Motto „Kommt, lasst uns etwas Gutes tun und dabei sterben“ gezeigt wird, hat das nicht viel geholfen. Die einzelnen Elemente wirken manieriert, das Zusammenspiel wirkt bemüht. Nicht das Werk, sondern die Person des von Goethe totgenörgelten Dramatikers Heinrich von Kleist wollte die Living Stage ins Zentrum der Inszenierung stellen.

Überraschenderweise meinte sie, dem Dichter über eine Personality-Show am nächsten zu kommen. Bonmots, Briefe, Kommentare und immer wieder Reiserouten quer durch Europa werden vom Laufsteg ins Mikrofon gesprochen. Die Arme bewegt Sophia Ryssèl dabei ausladend wie ein Schlagerstar im Erstsemester, die Augen, ohne Frage ausdrucksstark, rollen von links nach rechts und zurück. Wer aber ist Kleist? Anscheinend weniger eine getriebene Seele als eine chauvinistische Peitsche, ein spießiger Besserwisser, der selbst nicht eine einzige seiner Silben glaubt. Des Weiteren, das legt das uninspirierte Berlin-Video von Storm nahe, steht er mit Hauseingängen und Müllmännern in Relation.

Der lyrische Jazz, das atonale Kunstlied und der Theaterpunk von Art de fakt klingen so Avantgarde-bemüht, wie ihr Name es nahe legt. Auch bei Sprache, Gestik und den Filmeinspielungen von „Kleist“ spürt das Publikum stets starken Kunstwillen. Allein die Kunst will nicht so recht herauskommen. Christiane Kühl

Bis Donnerstag, jeweils 21 Uhr, Theaterprobenhaus Mitte, Koppenplatz 3-4

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