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: Trainspotting auf Berliner Art

■ Von Wladimir Kaminer

Seit vier Jahren lebe ich in einem Haus zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee, nicht weit von einem S-Bahnhof entfernt. Die Züge fahren quasi durch die Wohnung und sind für mich und meine Familie eine Konstante des alltäglichen Lebens geworden. Die Stimme des Zugabfertigers – „zurückbleiben!“ – hört man bei uns öfter als die Stimme des berühmten Sängers Towns van Zandt, den meine Frau so mag.

Im Laufe der Zeit ist die S-Bahn bei mir zu einer Art Lebensdroge geworden. Ohne ihr Crescendo kann ich nicht mehr einschlafen. Von meinem Balkon aus sehe ich die Gesichter der Zugführer, einige von ihnen kennen mich auch schon. Sie begrüßen mich mit einem kurzen Hupton.

Ich sehe auch die Gesichter der Fahrgäste, besonders abends, wenn die Abteile von innen beleuchtet sind. Die meisten fahren müde von der Arbeit nach Hause.

Ich selbst fahre so gut wie nie mit der S-Bahn. Sie ist für mich weniger ein Transportmittel als ein Meditationsobjekt. Das Betrachten des Zuges hilft mir abzuschalten. Wenn ich mit dem Alltag nicht klarkomme und den Zugang zum rasenden Leben nicht mehr finde, setze ich mich auf den Balkon. Von da kann ich die in Fünf-Minuten-Abständen hin- und herhuschenden Züge stundenlang betrachten.

Dabei vergesse ich völlig, dass es sich bei der elektrischen S-Bahn um eine technische Erfindung aus dem Jahr 1924 handelt. Ich betrachte sie als ein natürliches Phänomen, das zu dieser Landschaft genauso gehört wie die Tauben auf den Dächern oder die Sonne, die sich auf den Gleisen spiegelt. Ein Fest der Visualität, da freut sich die Seele. Das ist meine Art des Trainspotting – die Kunst der alltäglichen Liebe zur Welt.

Ich vermute, dass jeder in der Großstadt so ein meditatives Objekt hat, sich aber nicht alle darüber bewusst sind. Ich fragte ein paar Freunde und erfuhr interessante Geschichten. Der eine sagte, dass er oft mitten auf der Straße stehen bleibe und zwei, drei Minuten bewegungslos das Geschehen mit seinen Blicken durchbohre. Auf experimentellem Wege stellte er fest, dass sein Unterbewusstsein auf ein ganz bestimmtes BMW-Modell reagiert. Immer, wenn so ein Auto vorbeifuhr, blieb er auf einmal stehen, ohne zu wissen, warum. Ein anderer erzählte mir, dass er stundenlang auf das Bildschirmschonerprogramm seines Computers starren könne, ohne davon müde zu werden. Meditation – eine Lebensdroge des Großstädters.

Ein dritter Freund erzählte mir nichts über seine Zug-Betrachtung, sondern über die möglichen Auswirkungen solcher Wahrnehmungen: Eine 56jährige Frau, Buchhalterin, hatte hundert Psylozibinpilze gegessen, die sie in der Küche ihres Sohnes gefunden und irrtümlich für eine kalte Pilzsuppe gehalten hatte. Was ihrem Bewusstsein erschien, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Jemand, der willentlich meditiert, kann sich zu solchen Erscheinungen – wie die allerletzte Wahrheit, vorbeirasende Feuerflammen und fliegende kleine Teufelchen – mit einem gewissen Humor verhalten. Doch die arme Frau verlor vollkommen den Sinn für die Realität. Sechs Stunden lang betrachtete sie angestrengt die Tapete, dann nahm sie eine Handsäge aus dem Werkzeugkasten und sägte ein gutes Drittel des Küchentisches ab. Die S-Bahn, die auch vor ihrem Haus vorbeifuhr, würdigte sie die ganze Zeit keines Blickes.