Schlanke Hei-di

In der Begrenzung liegt das Glück: Das Filmfest Locarno musste sparen. Prompt war das Programm besser  ■   Von Axel Henrici

Ein abgewracktes Schiff, eine gewaltige Explosion: Das Jahrhundert fliegt mit Musik in die Luft. Giuseppe Tornatores „Die Legende vom Ozeanpianisten“, mit dem die Filmfestspiele von Locarno am Samstag zu Ende gingen, erzählt die Geschichte eines Findlings, der zur Jahrhundertwende auf einem Schiff geboren wird und dieses sein Lebtag nicht verlässt. Zu einem großen Salonpianisten heranreifend, pendelt Mister 1900 (denn so heißt unser Schiffsbewohner) unablässig zwischen Europa und Amerika hin und her. „Die Legende vom Ozeanpianisten“ ist ein opulenter Künstlerfilm und zugleich Allegorie auf ein zu Ende gehendes Jahrhundert – eigentlich ist es ein Roman, kein Film. „Land is a ship too big for me, a music I can't play“, sagt Tim Roth alias 1900: Das Glück liegt in der Begrenzung, in der unendliche Entfaltung erst möglich ist.

Dass sich sogar die Begrenztheit der Mittel manchmal als ein Segen entpuppen kann, bewies Festivaldirektor Marco Müller, der im achten Jahr seiner Amtszeit das Programm erstmals erheblich reduzierte: Wettbewerb und Nebenreihen wurden deutlich entschlackt und dafür durch eine Retrospektive ergänzt, die in punkto Umfang und Vollständigkeit eine filmhistorische Leistung darstellt, ja beinahe als ein kleines Parallelfestival gelten konnte. In der Retro „Jahrgang 1970 – Joe Dante und die zweite Corman-Generation“ lief beinahe das komplette Frühwerk all der Regisseure, die jemals durch die Schule von Roger Corman gingen.

Corman war der ungekrönte König der B-Movies. 1970 war er mit seiner Produktionsfirma New World angetreten, um Hollywood von innen heraus anzugreifen. Getreu der Devise „Ein bisschen was von allem: Sex, Action, Horror, Sciencefiction – und das Ganze unterfüttert mit etwas Sozialkritik“ produzierte Corman Filme, die heute vor allem als Trash rezipiert werden, damals aber durchaus für ein Massenpublikum gemacht wurden. Es sind Genrefilme, die freilich zugleich verkappte Autorenfilme sind und oft einen komischen bis satirischen Zug haben – was nicht immer den Gefallen des Meisters fand. Neben Joe Dante, dem Schöpfer der Gremlins, verdienten sich unter anderem Regisseure wie Jonathan Demme, John Sayles und Monte Hellman bei Corman ihre ersten Sporen.

Bei aller Vielfalt des Gezeigten ließ die Auswahl an Filmen diesmal eine klare Programmgestaltung erkennen. Neben der Corman-Retrospektive und der Reihe „Perspectives Suisses“ – die diesmal, frei nach ihrem besten Beitrag, auch „ID Swiss“ (lies: „Idee Schweiz“, „Identität: Schweizer“ oder ironisch „Hei-di Schweiz“) hätten heißen können – gab es noch eine sorgfältig zusammengestellte Porträtreihe über Autorenfilmer: von Philippe Garrel über Jacques Doillon bis hin zu David Cronenberg.

Der japanische Schauspieler und Regisseur Takeshi Kitano war sogar gleich drei Mal vertreten. Neben seinem neuen Film „Kikujiros Sommer“ liefen eine Dokumentation der Dreharbeiten und eine französisch-japanische Koproduktion: „Kitano, l'imprévisible“. Regisseur Jean-Pierre Limosin hatte sich die Fragen überlegt und dann Shigehiko Hasumi, Dekan der philosophischen Fakultät Tokio und ausgewiesener Filmexperte, freie Hand bei der Gesprächsführung gelassen. So entstand ein spannendes Gespräch zwischen zwei höflichen, auf ihre jeweils eigene Art ziemlich durchtriebenen Anzugträgern.

Nachdem es in den letzten fünf Jahren schon fast ein Running Gag geworden war, dass ein Leopard immer an den Iran geht, zeichnete sich mangels persischer Kandidaten diesmal schnell ab, dass der Wettbewerb mehr oder weniger auf einen europäischen Zweikampf, nämlich zwischen Frankreich und Italien, hinauslaufen würde. Beide Länder hatten jeweils drei Filme nach Locarno geschickt. Das Ergebnis war eindeutig: Alle drei französischen Filme trugen Leoparden davon – Hélène Angels „Peau d'homme, coeur de bête“ sogar gleich zwei: den Goldenen Leoparden für den besten Film und einen Bronzenen Leoparden für den besten männlichen Hauptdarsteller. Die Italiener indes gingen leer aus.

Dabei hätte zumindest Paolo Virzis kraftvolle und welthaltige Sozialkomödie „Baci e abbraci“ einen Preis verdient gehabt. Wie nach einem guten Rockkonzert fühlt man sich beim Verlassen des Kinosaals, so gewaltig ist der Energiestoß, der von den beinahe zwei Dutzend Protagonisten ausgeht. Vom maulenden Schwiegervater bis zum versifften Grunge-Jüngling: jeder für sich ein runder Charakter.

Einen Film wie Stefano Incertis „Prima del Tramonto“ möchte man dem Regisseur hingegen am liebsten um die Ohren hauen. Als „Pulp Fiction“ auf Italienisch angekündigt, fehlt dem Film genau jener konsequent nihilistische oder wenigstens spielerische Zug, den das Vorbild auszeichnet. Incertis Film kann sich nie entscheiden, ob er Farce, Parodie oder soziales Rührstück sein will. Und dann die Metaphern! Ein halb im Sand versunkener Frachter, Blindenfußball neben dem Ort eines tragischen Verbrechens.

Urschreie erst der Verzweiflung, dann der Befreiung. Und ein fünfjähriges Mädchen, das gerade einer Familienhölle entronnen ist, aber seelisch unzerstörbar erscheint: Das ist, was zurückbleibt von Hélène Angels „Peau d'homme, coeur de bête“, einer Studie über Gewalt in der Familie, die angenehm frei von Psychologisierung ist. Die Ambivalenz der Charaktere, das Nebeneinander von zerstörerischer Wut und trauernder Liebe muss man einfach aushalten.

„Peau d'homme, coeur de bête“ ist ein starker, unumstrittener Siegerfilm, der ebenso wie Noémie Lvovskys wunderbares, von der Jury versilbertes Pubertäts-Poesiealbum „La vie ne me fait pas peur“ schleunigst einen mutigen Verleiher braucht. Möglichst noch in diesem Jahrhundert. Sonst werden die Leoparden böse.