Nackte Blödigkeit und ein böser Wille

■ „Die Republik vor Gericht“: Der Bremer Rechtsanwalt Heinrich Hannover dokumentiert im zweiten Band seiner Justizgeschichte – er umfasst die Jahre 1975-95 – eine Judikative, die sich als Waffe gegen Links instrumentalisieren ließ

Er hat Leute vor Gericht vertreten, deren Namen (hoffentlich) noch in vielen Menschen nostalgische Erinnerungen an fragwürdige, aber auch ritterliche Jugendträume von einem widerständigen Leben antippen. Ulrike Meinhof, Astrid Proll, Peter-Jürgen Boock: die bittersüßen Proustschen Madeleines der 68er- und 78er-Generation. Doch an den Beginn des zweiten Bandes seiner Geschichte von der traurigen Gestalt der bundesrepublikanischen Justiz stellt Heinrich Hannover nicht die großen Namen, sondern die nicht gerade wahnsinnsspektakuläre Verteidigung des heute nicht mehr gerade wahnsinnsbekannten „Terroristenanwalt“ Wolf Dieter Reinhard.

Schon bald versteht der Leser den Grund für diesen unscheinbaren Opener: Auf knapp 500 Seiten beschreibt Hannover, wie deutsche Richter und Staatsanwälte (das feminine -Innen erübrigt sich übrigens, da mit Ausnahme des – ausnahmsweise humanen – Proll-Prozesses die Männer das Recht (ver)formten) durch neurotischen Antikommunismus und Antipazifismus die Grundregeln fairer Beweisführung, Zeugenbefragung und Sachverständigenzuziehung schnöde ignorierten. Vor allem zeigt Hannover, wie die Arbeit der Verteidigung durch eine Latte von Maßnahmen – von der Demütigung (Untersuchung der Aktenkoffer) über Rufmord bis zum Telefonabhören –systematisch sabotiert wurde. Verhandlungszeiten und -orte wurden so gelegt, dass einem „Terroristenanwalt“ jede weitere Berufstätigkeit verunmöglicht wurde. Die Honorarzuweisungen für Pflichtverteidiger reichten oft nur dazu, die Sekretärin der Kanzlei zu bezahlen. Eine Strategie des Aushungerns. Und wenn ein Rechtsanwalt unangenehme Beweisanträge stellte, konnte es schon mal sein, dass er wegen „Verunglimpfung der Polizei“ (das passierte Otto Schily) und „Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“ plötzlich selbst vor Gericht stand. Der erste Fall des Buches beschreibt eine solche (übrigens missglückte) Kastration der Verteidigung. In einem späteren Kapitel nennt das Hannover mal „die höchstrichterlich abgesegnete Entrechtung der Verteidigung“.

„Die Republik vor Gericht“ ist aber zuallererst eine aufregende Materialsammlung. Ein Viertel des Textes ist O-Ton, der Zeitgeist ausdünstet: Strafanträge der Staatsanwaltschaft, Plädoyers, Urteile und prozessbegleitende Zeitungsmeldungen. Letzteres ist besonders wichtig, zeigt es doch, wie die Polizei durch einseitige, fehlerhafte oder manipulative Meldungen an die Presse ein Klima der Hysterie produzierte und wie große Teile der Presse durch Recherchemängel, nackte Blödigkeit oder bösen Willen lieber staatstragend als meinungsbildend agierten. Der juristische Laie erfährt überdies, was der Unterschied zwischen einer Revision und einem Wiederaufnahmeverfahren ist oder wie ein Befangenheitsantrag gestellt werden muss, um die Spur einer Chance zu haben. Juristischer Alltag eben.

Und dann die kleinen, feinen Gedächtnisauffrischungen. Von welchem Motorrad aus wurde Buback am 7.4.77 erschossen? Es war eine Suzuki 750 GS. Wer stellte sich damals hinter Mescalero, den anonymen RAF-Teilsympathisanten? Zum Beispiel Psycho-Prof Peter Brückner. Wie war das nochmal mit dem Niederknallen des Nicht-RAFlers Karl Heinz Roth durch die Polizei? Selber nachlesen!

Und der Stil der Darstellung? Im ersten Band erzählte Heinrich Hannover, dass es keineswegs sein Kindheitstraum war, auf Seiten der Linken zu stehen. Viel lieber wäre er Förster geworden oder eine Art klavierspielender Yuppie-Anwalt der reichen Bremer Kaufmannschaft. Er hat sich die Missstände nicht ausgesucht, die Missstände haben sich ihn ausgesucht, etwa in unerwünschten Pflichtverteidigungen von Menschen, welche die falschen Flugblätter verteilten. Wohl weil Gesellschaftskritik gar nicht mit seinen jugendlichen Sozialisationswünschen übereinstimmte, ist er bis ins Alter kein Gewohnheitslinker geworden, keiner, der immer schon vorab weiß, dass alles immer böse ist. Hinterher weiß er es dafür um so klarer. Ein tagelanges juristisches Geplänkel 1983, das versuchte, die strafmindernde Heroinsucht von Peter-Jürgen Boock schlichtweg zu leugnen, zeigte ihm „eine Seite deutscher Justizausübung, die ich, wenn ich sie nicht selbst erlebt hätte, nicht für möglich gehalten hätte“. Die Geburt des linken politischen Bewusstseins aus der Erfahrung. Aus den Stammheimprozessen versuchte sich Hannover so weit wie möglich herauszuhalten, weil er sich den Argumentationsmustern Ulrike Meinhofs nicht guten Gewissens anschließen konnte.

Um standardisierte gesellschaftskritische Vokabeln macht Heinrich Hannover einen Bogen. Seine Bewertungsgrundlage ist alles andere als antikapitalistisch, sondern ausschließlich der Selbstdefinition unseres Rechtsstaats entlehnt: keine Vorverurteilung, saubere Beweisführung, im Zweifel für den Angeklagten etc. Um so bewegender ist es, wenn Hannover dann eben doch alle 50 Seiten mal zu absolut drastischen Diagnosen kommt. Das Verfahren gegen Modrows „Wahlfälschung“ nennt er „politische Justiz“. Die dusseligen Gehässigkeiten gegen die DDR pariert er durch klügere und richtigere Gehässigkeiten gegen unseren „konservativ beherrschten kapitalistischen Einheitsstaat“. Und nicht nur für den Golfkrieg, dessen Gegner er 1991 verteidigte, sondern auch für den Kosovokrieg gilt für Hannover: „Die wirklichen Hintergründe von Kriegen sind den Menschen immer verschleiert worden.“ Einer der letzten Nichtwendehälse, danke.

Neben Hannover auf der Verteidigerbank saß gelegentlich Otto Schily. Der erzählt zum Beispiel am 7. August diesen Jahres der unterbelichteten Moderatorin von „Alex – die Berlin Talkshow“, wie unendlich schwer die „Verantwortung“ für sein „Amt“ auf seinen Schultern lastet. Gebeten um ein Beispiel für seine drückende „Verantwortung“ fällt ihm gar die Rettung „unseres Volkes“ vor irgendwelchen Bahnattentätern ein. Sein „Amt“ ist eben „die innere Sicherheit“ und die wird er sogar trotz 6 Prozent Haushaltseinbußen noch zu „höherer Effizienz“ führen. Auch das kann schließlich aus einem engagierten Anwalt werden: ein selbstgefälliger, machtverliebter Müllschlucker sämtlicher staatstragender Floskeln. Und Antje Vollmer findet in ihrer Rede zum Umzug Bonn-Berlin am 1. Juli (dokumentiert in, natürlich, der „konkret“) die heutige Bundesrepublik auf ganzer Linie tolltolltoll. Ganz besonders „froh darüber“ ist sie, „dass es uns (!) nach Jahren des Terrors gelungen ist, dass unsere (!) Politiker wieder frei in Fußgängerzonen flanieren können“. Erst angesichts solcher obszönen Dokumente politischen Alzheimerianismus ist ein Mann wie Hannover recht zu würdigen, dessen Denkhorizont über die Sorge um den freien Einkaufsbummel für freie, wendehälsige Neureiche hinausgeht und der die gesellschaftlichen Kosten der Kommunistenhetze bilanziert.

Hannovers Buch wird übrigens von der ZEIT bis Radio Bremen 2 (Morgenjournal) als „wichtiges“, „unverzichtbares“ Buch gerühmt – besonders gerne von jenen Leuten, die Kosovokrieg, innere Sicherheit und so ganz knorke-toll finden. Diese Gesellschaft hat es eben gelernt, substantielle Gesellschaftskritik virtuos zu überlesen und zu ignorieren. Barbara Kern

„Die Republik vor Gericht. 1975-1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts“. Berlin: Aufbau-Verlag. 49,90 Mark