„Jazz ist wie Kleenex“

■  Kein Original weit und breit: Archie Shepp, einer der letzten aus der Gründergeneration des Jazz, sieht auf heutigen Bühnen bloß solide Handwerker ohne Spirit. Bleibt ihm nichts übrig, als selbst wieder zu touren, um seiner Haltung unmissverständlich Ausdruck zu geben

taz: Die Jazzkritik hat Sie bis vor kurzem als „zornigen Faker“ beschrieben – ein Fossil aus den Sechzigern mit viel Botschaft und mangelndem Spielvermögen. Wie sind Sie damit fertig geworden?

Archie Shepp: Nun, Ähnliches sagten sie ja anfangs auch über Coltrane und über Charlie Parker. Ich denke, ich bin da in guter Gesellschaft. Ich möchte jedoch auch daran erinnern, dass ich ein schwarzer Mann bin und black music spiele, ich glaube nicht, dass meine Musik von Weißen beurteilt werden kann, wirklich nicht! Ich komme aus dem Süden, in dem Jahr, in dem ich geboren wurde, ist in meiner Stadt ein Mann gelyncht worden. Ich erinnere mich gut an alles, was meinen Leuten angetan wurde. So sehe ich auch nicht einfach darüber hinweg, wenn ein Jazzkritiker sagt: „Oh, er kann nicht spielen“, denn in 99 Prozent von allen Fällen ist dieser Kritiker ein Weißer.

Hat man sich deshalb von Ihnen abgewandt, als Sie in den siebziger Jahren die Balladen- und Bluestradition wiederentdeckten?

Als ich Free Jazz spielte, freute das viele Kritiker. Aber das ist eine Musik, die so gut wie nie von Schwarzen gehört wurde. Als ich mich dann stärker an meine Leute richtete, ging das Gemecker los, mein Publikum war nämlich vollkommen weiß. Hinzu kommt, dass ich schon immer eine deutliche Message an Afroamerikaner hatte und bis heute habe, sie jedoch nie erreichte. Mein Text richtet sich vehement gegen die Ausbeutung des schwarzen Amerika durch das bourgeoise Establishment, und durch meinen Saxophonpart habe ich meine Haltung dazu unmissverständlich gemacht – früher irgendwie akademischer, später mehr von den Wurzeln her. Ich finde es sehr wichtig, dass die Musik swingt.

Sie haben einst den Begriff „black music“ geprägt. Als Synonym für Jazz?

Jeder kann Jazz spielen. Jazz ist wie Kleenex, Marlboro oder Coca-Cola – meiner Einschätzung nach eine kommerzielle Idee. Ich rede nicht über Jazz, sondern über afroamerikanische Musik, und innerhalb dieser Musik über einen bestimmten Bereich, nämlich über zeitgenössische afroamerikanische Instrumentalmusik, die neben der Vocal- und Dancetradition besteht, die wir auch haben. Hierzu gehören Leute wie Chuck D, Snoop Doggy Dog, oder Ice-T. Ich rede wirklich über eine ausschließlich schwarze Angelegenheit, Soul und Leidenschaft, diese Werte kommen aus dieser Erfahrung. Die Vergewaltigung unserer Mütter, der Mord an unseren Vätern: wir kamen als Sklaven.

Die eine Ihrer zwei neuen CDs haben Sie „St. Louis Blues“ genannt. Suchen Sie immer noch nach den Wurzeln?

Es gibt gewisse unantastbare Dinge in einer Kultur, die von anderen einfach nicht kopiert werden können. Der Blues ist mehr als Musik – er ist eine Lebensweise, deine Art zu kochen, die Art, dein Haar zu tragen, die Art, wie deine Mutter spricht, schau dir Bluesleute wie John Lee Hooker an – sie sehen auch besonders aus. Why should it be so easy to be a nigger? Warum sollte es so einfach sein, ich selbst zu sein? Ich suche heute nach einer stärkeren Identität in der black music. Ästhetisch gesehen fühle ich mich jetzt meiner Tradition bedeutend näher, Big Bill Broonzy, Big Joe Williams, Robert Johnson, Memphis Slim, das sind Männer, die mir auch heute noch viel zu sagen haben.

Warum so weit zurückgehen?

Der Blues ist die einzige afroamerikanische Kulturleistung, die sich vollkommen uninformiert – und in dem Sinne unbeeinflusst – von europäischen Bezügen entwickelt hat. Die sogenannte Negro Tradional Music, die alten Spirituals, Ring Shouts und Worksongs, ist die einzige integrative Grundlage des Swing und der schwarzen Instrumentalmusik. Ich singe einen schwarzen Song.

Wie halten Sie es mit der Political Correctness? Mal sprechen Sie von „African American“, dann von „negro“ oder gar „nigger“.

Ich bin ein original thinker, ich entscheide, was für mich politisch korrekt ist, und nicht die Medien oder ein negro, der festlegt, was für andere negroes korrekt ist. Ich stelle mich in allen Verkleidungen dar, in die ich gesteckt werde. Ich trage viele Masken.

Sie widmeten früher diverse Kompositionen Malcolm X. Auch Ihre zweite aktuelle CD „Conversations“ hat einen „Brother Malcolm“-Titel. Wie denken Sie über Louis Farrakhan, den Führer der Nation of Islam?

Ich vergleiche Farrakhan nicht mit Malcolm X, es handelt sich da um zwei ganz verschiedene Männer. Minister Farrakhan hat allerdings sein Image weitgehend auf jenem von Malcolm X aufgebaut, Malcolm war also zweifellos sein Mentor. Malcolm war ein großer original thinker, allerdings in einer ganz anderen Zeit, in den sechziger Jahren eben.

Was halten Sie von den nicht enden wollenden Versuchen vornehmlich junger Jazzmusiker, sich an die alten Swing- oder Bebop-Klassiker zu halten?

Die Identität ist heute wirklich die Hauptfrage. Es gibt einen Ansturm in der afroamerikanischen Musik von eher schlecht getarnten Imitatoren, die viele credits bekommen und sich selbst beweihräuchern, so als ob sie originale Musiker wären, obwohl doch jeder weiß, dass es von ihnen keinen einzigen bedeutenden Song gibt. Der Jazz ist die Musik einer weißen Mittelschicht geworden, und für die spielt Wynton Marsalis zauberhaft. Die Musik entfernt sich in diesem Prozess zunehmend von ihren Wurzeln. Insofern schadet Marsalis dieser Musik.

Kann man heute Orginal und Fake noch so klar trennen?

Die Musik begann in Harlem, Detroit, Philadelphia, in den großen Städten, im Süden und oft in den ärmsten Communities. John Coltrane, Charlie Parker, Lester Young, sie kamen aus den schwarzen Ghettos. Heute kommen die meisten Jungs aus der Bourgeoisie, sie haben den Blues in der Universität gelernt. Die afroamerikanische Musik hingegen war immer aktuell und sehr lebendig gewesen, das ist ihre Tradition, besonders die improvisierte Musik ist sehr beeinflusst von dem Hier und Jetzt, das Marvin Gaye in „What's goin' on“ meinte.

Sie halten Wynton Marsalis also für einen Ausverkäufer?

Ich würde heute sagen, dass er als Vorzeigeneger für das Lincoln Center (New Yorks große Institution für Klassische Musik, Oper, Tanz, Theater und Jazz; d. Red.) eine gute Wahl war, so nach dem Motto „Our Man in Lincoln Center“. Fakt ist dann auch, dass er und seine Verbündeten ganz wesentlich die heutige Jazzkonzertszene in New York kontrollieren. Und ihr Reglement ist fatal. Vor allem weil es dazu geführt hat, dass eine ganze Reihe von sehr erfahrenen, etablierten und bedeutenden New Yorker Musikern in ihrer eigenen Stadt kaum noch zu hören sind.

Lässt sich daran gar nichts ändern?

Die Geschichte sollten wir so nicht wiederholen. Klar ist schon lange, dass wir unsere Musik selbst kontrollieren müssen. Das muss aber nach professionellen Richtlinien erfolgen, und wir sollten das dafür nötige Geld auftreiben. Wir müssen ins Big Business, anders kann es nicht klappen. Die ausschließlich aus Selbstausbeutung sich generierende Szene kann meiner Erfahrung nach nicht kreativ sein, da sie nur damit beschäftigt sein wird, das schlichte Überleben zu organisieren. Aber ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob unsere Musik selbst überleben wird. Negro Music braucht seine Basis in der Black Community. Mama Rose, meine Großmutter, schenkte mir mein erstes Saxophon, ein Ratenkauf und gerade noch erschwinglich. In den heutigen schwarzen Ghettos kann sich keiner mehr ein Saxophon leisten. Aber ohne Black Community keine Negro Music. Das ist die soziale Essenz dieser Musik.

Heißt das, der Jazz nähert sich aus sozialen Gründen seinem Ende?

Der Jazz ist tot! Ich würde sagen, dass der Rapper den Jazzmusiker ersetzt hat. Die Entwicklung des Rap korrespondiert mit der großen Armut, die heute in den Ghettos herrscht. Es wird wohl in letzter Zeit gern und viel vom Aufstieg einer schwarzen Mittelschicht gefaselt, das ist reine Augenwischerei. Lange war die Armut und Hilflosigkeit in den schwarzen Communities nicht so groß wie gerade heute. Jazz hat jedenfalls keinerlei Einfluss mehr auf das Leben der afroamerikanischen Kids.

Ihre Generation ist somit die letzte, die diese Musik noch am Leben erhält?

Das sehe ich so. Kein Original in Sicht! John Coltrane veränderte den Sound des Saxophons grundlegend. Charlie Parker, Cannonball Adderley. Zeigen Sie mir heute den Musiker, der wirklich etwas grundlegend Neues geschaffen hat. Meine Generation hat kein wirklich neues Ziel mehr. Wir haben die Aufgabe, die Tradition zu erforschen und sie in einen aktuellen Kontext zu übersetzen. Interview: Christian Broecking

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