Die Nomaden der Moderne

Die Flucht der Roma aus dem Kosovo ist nur ein weiteres Kapitel in ihrer langen Odyssee. Von der freiwillig-unfreiwilligen Kollaboration mit den Schergen von Milosevic  ■ Aus Bari Werner Raith

Die Geschichte seiner Familie, weiß Baran Salevic, ist „älter als die der Nibelungen und wechselhafter als das Wetter in Nordeuropa“. In den 30er Jahren, als die Nazis noch nicht so recht wussten, ob sie Sinti und Roma aufgrund der „indogermanischen Herkunft“ als wertvolle Verwandte schätzen oder aufgrund ihrer Nichtsesshaftigkeit als zurückgebliebene Evolutionsableger sterilisieren sollten, haben Ahnenforscher die Historie von Sippen wie die der Salevic bis weit vor die Zeit Karls des Großen rekonstruiert: Den Weg, der sie aus Indien über den Iran bis nach Kleinasien und in den Balkan geführt hat. Inzwischen sind noch zahlreiche weitere Odysseen hinzugekommen: Von Rumänien nach Jugoslawien, von dort nach Italien, weiter nach Österreich und Deutschland und, in den späten 80er Jahren, wieder zurück nach Jugoslawien. Und nun wieder Hals über Kopf aus dem Kosovo nach Albanien und von da über die Adria nach Italien. Wie es weitergeht – „Gott der Herr wird's schon wissen“, sagt Baran.

Derzeit zieht Baran illegal durch die unteritalienischen Regionen; sein Bewegungsraum ist dabei nicht nur durch die ständige Flucht vor Polizeikontrollen eingeschränkt, sondern auch dadurch, dass er noch ansehnliche Teile seiner Familie und seiner Sippe einsammeln muss. Von den illegalen Schleusern waren sie – zusammen mit gut vier Dutzend Personen – beim albanischen Durrez auf drei Schlauchboote verteilt worden: „Die wollen nämlich möglichst in jedem Kahn auch Frauen und Kinder haben, damit sie von den Küstenwächtern nicht gerammt werden.“ Doch nur eines des Boote gelangte unbemerkt an den Strand nördlich von Bari – die beiden anderen wurden vom italienischen Grenzschutz aufgebracht, die „Boat-People“ in verschiedene Notaufnahmelager verschickt. Baran weiß erst von einigen wenigen, wo sie nun stecken. Von seiner Frau, seiner jüngeren Schwester, drei Neffen und zwei Nichten und deren zahlreichen Kindern hat er keine Nachricht, nur dass sie nicht ertrunken sind, nimmt er als sicher an: die im Rundfunk bekanntgegebene Zahl der „Aufgegriffenen“ stimmte mit der der BootsinsassInnen überein.

Als „capostipite“, wie er sich nennt, als Sippenchef, ist der 57-jährige Baran der Oberverantwortliche für alle, die mit ihm losgefahren sind. Nachfragen bei den Behörden verbieten sich von selbst – dann säße auch er in einem Lager und wäre noch mehr eingeschränkt. „Aber du“, meint er halblaut, „als Journalist könntest doch in die Lager gehen und diskret herumhören, ob meine Leute dort sind.“

Sein Vertrauen zu mir rührt von Mitteilungen seines „familiären Nachrichtendienstes“ her, wie er das nennt: von dort weiß er, dass ich vor zwanzig Jahren im Gefolge des legendären „Musikfestes der Zigeuner“ in Darmstadt zur Betreuuung später zugezogener Roma abgestellt war und zusammen mit einem nahen Verwandten Barans so manche Bataille mit dem Sozialamt und der Stadtverwaltung ausgefochten habe. Und so sieht er unser zufälliges Treffen nun regelrecht als Gunst des Schicksals an. Nicht immer waren die Länderwechsel Fluchten, oft hofften die Salevics einfach im Nachbarland auf besseres Auskommen.

Aus Darmstadt waren sie 1981 weggezogen, weil dort die Bevölkerung wieder zu mosern begann, als immer mehr klapprige Wohnwagen ankamen, die nichts mit den herausgesputzten Mercedes-Gespannen der „Musik-Zigeuner“ aus Deutschland gemein hatten: Die Sippe zog nach Holland, danach ins Französische, danach wieder einmal nach Italien und, als Jugoslawien auseinanderbrach, nach Kroatien, schließlich nach Serbien. „All diese Ortswechsel gingen, verglichen mit diesen letzten Wochen, geradezu gemütlich ab“, erinnert sich Baran. Ihr Handwerk als Kupferschmiede – eine der ältesten verbürgten Tätigkeiten der Roma – konnten sie überall ausüben, gekauft wurde auch überall, „es reichte zum Leben“. Doch diesmal war alles ganz anders: ein „Rennen ums nackte Menschenleben: Wir hatten das Pech, uns bei Ausbruch des Krieges gerade im Kosovo zu befinden und damit in der Hand der Säuberungspolizei von Milosevic. Und da gab es auch für die Schlauesten von uns keine Wahl mehr.“ „Keine Wahl“ ist wohl die Umschreibung der sogenannten Kollaboration mit den Serben: Weil sie überall herumkamen und so unverdächtig Nachrichten sammeln konnten, sahen die serbischen Geheimdienstler in den Roma wertvolle Spitzel gegen die Krieger der UÇK, verlangten, dass sie geheime Waffendepots aufspürten und verdächtige Bewegungen mitteilten. „Wer nicht mitmachen wollte, bekam Ärger“, sagt Baran und zeigt auf einige Narben am Oberarm seines Sohnes Dragan, 17: „Sie haben ihn drei Nächte in einen Schweinestall zu den Ebern gesperrt und dann, als er herauskam, von allen Seiten mit Dreschflegeln bearbeitet.“ Und das sei nicht einmal das Schlimmste gewesen: ein Mann und eine Frau von einer befreundeten Sippe seien totgeschlagen worden – „dabei hatten sie sich gar nicht geweigert, mit den Serben zusammenzuarbeiten, sie hatten nur nicht die gewünschten Informationen gebracht“. Baran denkt einige Zeit nach über die Frage, ob diese Informanten-Tätigkeit wirklich erst mit dem Krieg begonnen hat oder nicht auch schon wesentlich früher und weitgehend ohne den bösen Druck der Bombardements – damit ließe sich nämlich besser erklären, warum die Kosovo-Albaner so erbarmungslos alle Thesen von der „nur durch den Krieg erzwungenen Kollaboration mit den Schergen des Milosevic“ ablehnen. Er entschließt sich, lieber nicht klar zu antworten: „Natürlich haben sie uns auch vorher schon das eine oder andere gefragt.“ Geantwortet habe man darauf aber nicht, „meistens jedenfalls“. Und, nach einiger Zeit: „Aber wäre es wirklich todeswürdig, den legalen Behörden eines Landes zur Verfügung zu stehen?“ Wie dem auch sei: die nunmehr dank Nato herrschenden Kosovo-Albaner machen jedenfalls keinen großen Unterschied zwischen freiwilligen, halbfreiwilligen und erzwungenen Spitzeldiensten, für sie sind die Roma in Bausch und Bogen Serbenknechte, für jeden von ihnen besteht nun Gefahr für Leib und Leben. Von den „vielleicht 40.000 Nomaden in diesem Gebiet“ seien, meint Baran, zwei Drittel inzwischen geflohen. Ein Teil direkt nach Serbien, ein anderer nach Makedonien, ein dritter hat es nach Bulgarien geschafft. „Angesehen werden sie dort aber auch scheel – selbst in Serbien stellen die Leute infame Fragen, etwa so: Wieso ist euch die Flucht überhaupt geglückt? Haben die Amis euch jetzt ihrerseits als Spitzel angeworben?“ Die meisten Roma orientieren sich denn derzeit auch lieber in Richtung Italien oder Deutschland. Wie Baran mit seinen Verwandten. In drei der fünf Notaufnahmelager, die Baran als mögliche Unterbringungsstelle seiner Sippe angegeben hat, ist keine Spur seiner Verwandten zu finden, in einem allerdings sollen Mitglieder der Sippe Barans gewesen, vor einer Woche aber anderwärts verlegt worden sein, „vielleicht auch abgeschoben“, sagt ein Beamter in der Registratur. Im fünften Lager finden sich dann eine Nichte und ein Neffe Barans. Sie haben auch ungefähre Angaben, wo sich der Rest der Sippe befinden könnte – aber sie sagen es nicht. Zu tief sitzt das Misstrauen; selbst die kryptischen Botschaften Barans, die ich überbringe, überzeugen sie nicht. So viel jedenfalls soll ich ihm mitteilen: es sei grauenvoll hier. Tage habe es gedauert, bis man sie von den Kosovern getrennt hat, die hier noch auf die Heimkehr in ihr Land warten und die natürlich einen kräftigen Hass gegen die Roma pflegen. Das Lagerpersonal zeige nicht selten hochnäsige oder gar fremdenfeindliche Regungen, und der Zwang, sich hier einer Sesshaften-ordnung zu unterwerfen, die man im „Nomadenleben“ zu meiden gesucht hat, sei oft geradezu unterträglich. „Zudem haben diese Beamten hier auch keinerlei Ahnung von den Beziehungen der Nomadengruppen untereinander und pferchen einfach alle zusammen.“ So leben die Salevic nun Wand an Wand mit Mitgliedern der Volcic-Sippe, mit der sie seit Generationen verfeindet sind.

Dabei trennen sie nicht nur die Gesetze der Blutrache, sondern auch die des Glaubens: Christen sind die Salevic, Moslems die Volcic. So ist, der althergebrachten Sitte nach, den einen die Benutzung des Toilette, auf der die anderen saßen, untersagt – wofür die Lagerleitung, sowieso schon genervt durch die zunehmende Überbelegung, natürlich keinerlei Verständnis hat. Selbst beim Kochen entwickeln sich weitere Fehden: Grillen die Christen genussvoll ihre Schweinerippchen, flüchten die Moslems nebenan bereits vor dem Geruch des verbotenen Fleisches.

Baran nimmt die Nachrichten mit höchster Besorgnis entgegen. „Man muss ihnen heraushelfen“, sagt er, wiegt den Kopf und verfällt in langes Grübeln. Nicht schwer zu erraten, was in ihm vorgeht. Um die Mitglieder seiner Sippe „herauszuholen“, muss er sich erneut an Menschenhändler wenden – mafiose Gruppen der „Sacra Corona Unita“ bieten die „Befreiung“ Internierter in etwa zu dem Preis an, den die Überfahrt nach Italien gekostet hat, umgerechnet etwa 1.000 Mark pro Person. Das wäre aber noch nicht das Schlimmste. Meist wollen sie auch noch die eine oder andere Gegenleistung von den Roma: Ein wenig Gelegenheiten ausspähen, mal die eine oder andere „Sendung“ diskret von hier nach dort verbringen, einen Flüchtigen verstecken oder Beziehungen „nach drüben“, jenseits der Adria, herzustellen, um „Geschäftsverbindungen“ auszubauen.

So ziemlich genau das, wofür die Roma derzeit von den Kosovern zu Paaren getrieben werden. Baran nimmt es, trotz aller Besorgnis, am Ende wieder mit jener stoischen Haltung hin, die ihn so gut zum „Capostipite“ befähigt: „Wir sind jahrtausendelang durchgekommen, wo hunderte von einstmals mächtigen Völkern inzwischen untergegangen sind. Da ist mir um unser Schicksal dann auch wieder nicht bang.“ Er steigt auf die klapprige Vespa, die er gleich nach seiner Ankunft im Tausch gegen einige gerettete Ikonen erworben hat, hievt seinen Sohn auf den Rücksitz und fährt davon. Nach wenigen hundert Metern biegt er von der Provinzstraße ab, in einen Feldweg. Dort, in einem der verlassenen Bauernhäuser, wird er den Schlepper finden, der seine Familie aus den Camps herausholen soll.

„Die wollen in jedem Kahn auch Frauen und Kinder haben, damit sie von den Küstenwächtern , nicht gerammt werden.“

Baran denkt einige Zeit nach über die Frage, ob die Informantentätigkeit wirklich erst mit dem Krieg begonnen hat