■ Trotz Großdemo in Belgrad: Alle Macht geht von der Provinz aus: Der Schein trügt
Belgrad hat demonstriert. Hunderttausend waren auf den Beinen.Beachtlich, könnte man meinen. Jung und Alt, Provinzler und Großstädter – das ist neu für Serbien. Diesen Eindruck vermittelten zumindest die Fernsehbilder. Aber ganz so war es nicht: Die Provinz gab den Ton an beim Demonstrations-Happening. Die Provinz drückte der Veranstaltung ihren Stempel auf. Und in der Provinz wird der Protest weitergehen, während Belgrad – das behaupten zumindest böse Zungen – wieder in einen Dornröschenschlaf versinken wird.
Seit Wochen finden in Serbiens Kleinstädten Abend für Abend bunte Protestkundgebungen statt. Hochburgen sind Cacak, Kraljevo und Leskovac. In der Hautpstadt dagegen ist es ruhig. Oppositionsführer wie Zoran Djindjic erklären diese Zurückhaltung stets mit Taktik. Erst komme die Provinz, dann werde der Protest in die Metropole getragen: „Vom Land in die Stadt, das ist unsere Devise, die Hauptstadt ist sowieso schon in den Händen der Opposition.“
Ein kurzer Abriss der osteuropäischen Dissidentenbewegungen lehrt allerdings etwas anderes: Meist waren die Hauptstädte nicht die Brutstätten neuer Ideen und revolutionärer Bewegungen. Jena war Ende der 70er Jahre die Keimzelle der DDR-Friedensbewegung und nicht Ost-Berlin. Auch Solidarnosc entstand in Danzig und nicht in Warschau. Das Dorf Monor steht in Ungarn für einen demokratischen Neubeginn. In Rumänien gab es die einzigen Arbeiterunruhen zur Ceausescu-Zeit nur im Schiltal und im siebenbürgischen Brasov (Kronstadt). Und als der verhasste Diktator 1989 stürzte, geschah dies durch den Aufruhr im Banater Temeswar und nicht im politisch gelähmten Bukarest. Zenica und Trepca – wer kennt die Orte wohl – stehen in Jugoslawien für Arbeiterunruhen zur Tito-Zeit.
In den kleinen Provinzstädten prallten die gesellschaftlichen Widersprüche schärfer aufeinander als in der Hauptstadt, wo die „Luft freier“ war, wie man damals sagte. Es gab dort Kinos, Theater, politische Veranstaltungen und Diskussionen, die in den Kleinstädten undenkbar waren. Es war leichter, eine gute und interessante Arbeit zu finden und vieles mehr.
Das ist auch die Situation im heutigen Serbien nach dem Nato-Krieg um das Kosovo: Während Belgrad von den Luftangriffen vergleichsweise verschont blieb, schlugen die Bomben auf dem Land ein, zerstörten dort Fabriken und Industrieanlagen. Die Versorgung und der Schwarzmarkt brachen zusammen, während beides in Belgrad noch immer irgendwie funktionierte. Straßenbahnen und Stadtbusse verkehrten in der Hauptstadt noch zu einem Zeitpunkt, als in den ländlichen Gegenden Serbiens die Züge schon stillstanden. Die trostlose Provinz wurde noch trostloser.
Möglicherweise ist es diese Mischung aus Trostlosigkeit und gesellschaftlichem Widerspruch, die zur Keimzelle einer neuen serbischen Protestbewegung führte. Die Demonstranten kamen in Hunderten von Bussen zur Großdemo nach Belgrad und wunderten sich, warum sich schon bei ihrem Marsch in die Innenstadt relativ wenige Hauptstädter anschlossen. Mindestens ein Drittel, möglicherweise sogar die Hälfte aller Demonstranten waren „Zugereiste“. Karl Gersuny, Wien
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