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Rückgrat der Hamburger Reggae-Szene: Singles-Spezialist „Selekta“  ■ Von Nils Michaelis

Hamburg 1975: Bob Marley ist während seiner ersten Deutschlandtournee zu Gast in der Musikhalle. In der ersten Reihe des bestuhlten Konzertsaals wartet Hans Peters – er wird nicht enttäuscht. Bartelsstraße 1999, kurz vor der Schanzenstraße: Aus einem Plattengeschäft wummern dezente Reggaebässe. Wieder ist Hans Peters in der Nähe, nur diesmal ist er es, der für die Musik sorgt – inzwischen als Mitinhaber des einzigen Reggae-Plattenladens Hamburgs.

Seit rund vier Jahren versorgen Peters und sein Geschäftspartner Ingo Schepper mit ihrem „Selekta Shop“ eine stetig wachsende Anzahl von Reggae-Fans mit ihrer Lieblingsmusik. „Für Reggae sind wir wohl das einzige Spezialgeschäft in Norddeutschland. Wir verschicken deshalb auch Listen und verkaufen per Mail-Order.“ Für Nachfrage sorgen u.a. die rund 30 Soundsystems, die in Hamburg und Umgebung das Rückgrat der Reggae-Szene bilden.

Soundsystems stammen ursprünglich aus dem Jamaika der frühen sechziger Jahre und bestanden meist aus Lieferwagen nebst Stereoanlagen und extra großen Bassboxen: Ein Thron, von dem aus der Plattenaufleger, der „Selecter“, die Tanzfläche mit den knalligsten Hits beheizte. Nach wie vor werden von den DJs die kleinen 7-Inch Singles bevorzugt. Im Wettstreit der Soundsystems um die neuesten Hits sind sie damals wie heute das schnellste Format – und die wenigsten Veröffentlichungen in diesem schnelllebigen Geschäft finden überhaupt ihren Weg auf ein Album. Dem Plattenhändler kann das nur recht sein – rund tausend Stück der kleinen Platten mit dem großen Loch werden monatlich verkauft. Und an frischem Nachschub mangelt es nicht: Bei einer Einwohnerzahl von rund 2,5 Millionen werden auf Jamaika monatlich zwischen 300 und 400 verschiedene Single-Titel produziert.

Das fordert auch den Verkäufer. Sein erstes Wissen als Plattenhändler erwarb sich Peters, als er 1978 bei der Musikhandelskette Govi anfing. Während der achtziger Jahre beriet er bei „Ruff Trade“ im Karolinenviertel die Kundschaft in Sachen Indie-Rock.

Ingo Schepper, Peters Geschäftspartner, organisierte zunächst als Kleinhändler Plattenbörsen. Außerdem war Schepper schon damals das, was man einen Szeneaktivisten nennt: Bereits in den späten 80ern veanstaltete er legendäre Hip-Hop- und Ragga-Events, und noch heute betreibt er das Lovetank Soundsystem. Die Zeit war damals reif, aus der Lieblingsmusik den Broterwerb zu machen. Während sich die hippie-eske Fraktion der Reggaehörer immer mehr vom öffentlichen Leben verabschiedete, war eine neue Fan-Generation entstanden. Das neue Publikumsinteresse galt entweder dem ganz aktuellen Dancehall-Reggae, oder man suchte nach altem, obskurem Material aus der Ska- und Rocksteady-Phase des Reggae. Diese neue Generation von Reggaehörern hat den Weg zu ihrer Lieblingsmusik oftmals über us-amerikanischen Hiphop gefunden – und bringt ein ganz neues Geschichtsbewusstsein mit. Schließlich gibt es einiges nachzuholen.

Fast anderthalb Jahrzehnte jamaikanischer Musikgeschichte sind allenfalls bis nach England vorgedrungen: Radiotaugliche Hits wie „My Boy Lollopop“ oder Desmond Dekkers „Israelites“ blieben im Deutschland der 60er Jahre One-Hit-Wonder, die das Publikum kaum als eigenständige jamaikanische Musik wahrnahm. In Zusammenarbeit mit dem Moll-Label sind aus diesem archivarischen Interesse heraus inzwischen auch zwei liebevoll editierte CD-Releases entstanden, die rare Singles der Reggaekünstler Joseph Cotton und Alton Ellis, dem großen Soulman des Rock Steady, zu einer Werkschau zusammenfasen.

„Ich habe Alton Ellis eine Liste meiner Lieblingsstücke gegeben, und er hat die rechtlichen Fragen geprüft. Die ursprünglichen Bänder sind entweder über die ganze Welt verstreut oder verloren gegangen. Alle wichtigen Stücke sind jetzt auf der CD und stammen von gut erhaltenen Singles aus meiner Sammlung.“

Der Plattenladen als heimliches Kulturinstitut einer Musik, die Platten allein als Gebrauchsgegenstände versteht? „Das habe ich mir abgeschminkt. Ich bin schon ganz zufrieden, wenn ich den Leuten eine gute Platte verkauft habe.“