Russland schlägt überflüssige Hilfe des Westens aus

■ Heuschrecken haben 20 Prozent der Anbaufläche verwüstet, doch Getreidereserve reicht

Moskau (taz) – Der Feind schlief nicht, er fraß. Im Gefolge der Dürre in großen Teilen der Russischen Föderation, fielen diesen Sommer die Wanderheuschrecken ein. Sie fegten über die Felder in Zentralsibirien, wo man sie seit 40 Jahren nicht mehr gesehen hatte, von der mittleren Wolga und bis zum Ural. Die kleinen, rosafarbenen, die man hier „italienische“ nennt, und die sperlingsgroßen „asiatischen“ hatten schon im Juli 700.000 Hektar an Getreide und Gemüse weggeputzt.

Derweil lauerten weltweit die potentiellen Anbieter humanitärer Hilfe, ob die russische Föderation, wie letztes Jahr, um Hilfsleistungen in Form von Getreidelieferungen ersuchen werde. Für die Landwirte in Westeuropa und den USA ist der Aufkauf von Getreide durch ihre Regierungen für diesen Zweck eine gute Möglichkeit, ihre Überschüsse loszuwerden.

Doch der neue Premierminister Wladimir Putin machte jetzt einen Strich durch die Rechnung der internationalen Agrarspekulanten. Auf scheinbar wunderbare Weise steigerte er das zu erwartende Ernteergebnis. Diesmal könne Russland mindestens 60 Millionen Tonnen einbringen, sagte er: 12 Millionen Tonnen mehr, als in dem im Hinblick auf die Ernte katastrophalen Vorjahr, welches das schlechteste seit 40 Jahren war. Die dann immer noch fehlenden 8 Millionen Tonnen – vorwiegend Futtergetreide – werde man kommerziell erwerben.

Vieles spricht dafür, dass Putin mit seiner auf den ersten Blick wunderbaren Prognose nahe an der Wahrheit ist. Erstens überfielen Dürre und Heuschreckenplage nur 20 Prozent der Anbauflächen. Und zweitens hatte sich selbst letztes Jahr herausgestellt, dass die Hilfe aus dem Westen eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, denn Russland verfügte noch über beträchtliche Getreidereserven.

Auch diesmal liegt eine Reserve von mindestens sieben Millionen Tonnen in den Silos. Geschätzt wird außerdem, dass über die offiziellen Erträge hinaus private Farmer und Kolchosbauern mindestens 15 Prozent jeder Ernte offiziell nicht deklarieren und an illegale Aufkäufer absetzen.

Ob offen oder klammheimlich – überhaupt eingebracht werden kann die Ernte nur, wenn die russischen Landwirte über den dafür notwendigen Kraftstoff verfügen. Benzin aber ist gegenwärtig knapp und teuer. Lösen will die neue Regierung das Problem, indem sie die Erdölsyndikate bei Androhung von Exportstopps zwingt, unverzüglich ihre Steuerschuld gegenüber dem Staat zu tilgen. Das Geld soll dann an die Agrarier zum Erwerb von Benzin weitergeleitet werden. Der Trick verspricht den Unmut des Internationalen Währungsfonds zu erregen. Während die Schlacht um die Ernte in vollem Gange ist, horten die BürgerInnen Mehl und Grütze. Nicht ohne Grund. Auf dem inneren Markt sind die Rubelpreise für Getreide seit letztem Jahr um das fünffache gestiegen. An der Moskauer Börse geht man davon aus, dass im September der Preis für eine Tonne Getreide dritter Klasse 117 bis 118 Dollar betragen wird – nicht weniger als in den USA. Die russischen Bäcker zögern den Preissprung vorerst hinaus, indem sie dem Teig billigere Mehlsorten beimischen.

Wegweisend wirkte in dieser Hinsicht der rührige Gouverneur der Region Samara, Dmitri Ajazkow. Er verpflichtete die örtlichen Bäckereien zum Verkauf von „Volksbrot“. Der Laib besteht aus Mehl fünfter Klasse und kostet anderthalb statt dreieinhalb Rubel.

Barbara Kerneck