Endlich: Die orale Insulintherapie

Der tägliche Griff zur Spritze ist für viele Diabetiker eine Qual. Doch damit könnte bald Schluss sein: Demnächst wollen mehrere Pharmafirmen das erste inhalierbare Insulin auf den Markt bringen  ■   Von Claudia Borchard-Tuch

„Am besten geht es, wenn ich einen tiefen Atemzug mache und die Luft anhalte“

Vor jeder Mahlzeit und gelegentlich auch zwischendurch nimmt der Buchhalter Paul Matelis aus Florida einen tiefen Atemzug aus einem Inhalator – er enthält Insulin zum Einatmen. Paul Matelis ist zuckerkrank und nimmt an Studien über inhalierbares Insulin teil. Bald schon kann es Wirklichkeit sein: Zuckerkranke müssen sich Insulin nicht mehr spritzen – sie können es einfach einatmen.

Dies belegen Studien, die auf den beiden letzten Jahrestagungen der American Diabetes Association vorgestellt wurden. Die Tests zeigen, dass das Insulin zum Einatmen ebenso wirkungsvoll wie das herkömmliche Insulin zum Spritzen ist. Und es ist gut verträglich: Nahezu 90 Prozent der Patienten, die es einmal probiert haben, wollen weiterhin bei ihm bleiben. Derzeit beginnt das inhalierbare Insulin die letzte Prüfungsphase vor der Zulassung und wird bei tausenden von Patienten an 117 verschiedenen Orten getestet. In Kürze soll es in Frankfurt/Main gemeinsam von den Pharmafirmen Pfizer und Hoechst Marion Roussel produziert werden.

Das Insulin zum Einatmen wird zahlreichen Zuckerkranken das mehrmalige tägliche Spritzen ersparen. In der ganzen Welt benötigen etwa 50 Millionen Diabetiker Insulin. Sie haben zu viel Zucker im Blut, weil ihre Körperzellen den im Blut vorhandenen Traubenzucker nicht aufnehmen können. Hierfür brauchen die Zellen ein Hormon der Bauchspeicheldrüse, das Insulin. Es verbindet sich auf den Zelloberflächen mit Rezeptormolekülen und bewirkt so die Aufnahme des Blutzuckers in die Zellen.

Bei Diabetikern funktioniert dieser Mechanismus nicht, weil der Körper entweder zu wenig Insulin produziert (Typ 1) oder seine Zellen unempfindlich gegenüber der Wirkung des Insulins geworden sind (Typ 2). Der Typ-2-Diabetiker ist zwar zumeist älter und übergewichtig, aber nicht immer. So nimmt der Typ-2-Diabetes bei nordamerikanischen Kindern und Jugendlichen „besorgniserregend“ zu, wurde bei der diesjährigen Jahrestagung der American Diabetes Association in San Diego, Kalifornien, berichtet. Nahezu immer sind die betroffenen Kinder stark übergewichtig, sagte Bernard Zinman von der Universität Toronto. Er hat in einer Studie Risikofaktoren für die Entstehung des Typ-2-Diabetes bei Kindern erfasst. Abgesehen vom Übergewicht steigt das Risiko vor allem bei Kindern, die mehr als fünf Stunden täglich vor dem Fernseher sitzen, drastisch an. Bei ihnen steigt das Risiko, an Diabetes zu erkranken, um den Faktor 2,5. Auslöser der Stoffwechselerkrankung können auch geringe Fitness und eine ballaststoffarme Ernährung sein.

Da den diabeteskranken Körperzellen der Zucker fehlt, müssen Körperfett und Muskulatur zur Energiegewinnung abgebaut werden, das führt zu Müdigkeit und Gewichtsverlust. Der hohe Zuckerspiegel überschreitet die Nierenschwelle; Zucker wird mit dem Urin ausgeschieden und der Urinfluss erhöht. Dies gab der Krankheit ihren Namen - Diabetes mellitus, honigsüßer Durchfluss.

Problematisch ist die Therapie. Da Insulin ein Eiweiß ist, ist es nicht möglich, es in Tablettenform einzunehmen. Es würde wie jedes andere Eiweiß verdaut und dadurch wirkungslos werden. Bei Typ-2-Diabetes helfen oft Tabletten. Zwar enthalten sie kein Insulin, aber Substanzen, die körpereigenes Insulin freisetzen oder die Insulinempfindlichkeit des Körpergewebes erhöhen und so die Krankheit in den Griff bekommen.

Manchmal zeigen diese Substanzen keine oder nur unzureichende Wirkung. Der Typ-1-Diabetiker hat keine Wahl: Er muss Insulin nehmen. Bisher gab es nur eine Möglichkeit, das Insulin einzunehmen – es in ein Blutgefäß oder unter die Haut zu spritzen. Zwar stehen mittlerweile moderne Spritzhilfen („Pens“) zur Verfügung, die wie überdimensionale Kugelschreiber aussehen und deren Inhalt man sich direkt durch Hemd und Hose spritzen kann. Doch egal wie – das Spritzen muss zumeist mehrmals täglich geschehen, und an den Einstichstellen reagiert die Haut oft überempfindlich, oder das Fettgewebe schwindet sogar darunter mit unschöner Dellenbildung. Die auch nach der Entdekkung des Insulins noch lange und zum Teil bis heute existierenden Diätvorschriften für Diabetiker, bestehend aus sehr wenigen Kohlenhydraten (Stärke und Zuckerstoffen), viel Fett sowie zahlreichen Zwischenmahlzeiten, müssen heute zum Glück meist nicht mehr eingehalten werden.

Die intensive Insulintherapie ist die Methode der Wahl: Der Patient nimmt morgens und abends verzögert wirkende Insuline ein und spritzt zusätzlich rasch wirksames Normalinsulin vor jeder größeren Mahlzeit. In Abhängigkeit von der Höhe des Blutzuckers und dem Umfang der geplanten Mahlzeit legt der Patient die Insulindosis fest. Voraussetzung ist die Blutzuckermessung vor jeder größeren Mahlzeit. Dies geschieht meist durch einen Teststreifen, der mit einem Tropfen Blut benetzt wird. Ein Messfühler, der im Fettgewebe unter der Bauchhaut eingesetzt wird und seine Werte an eine Art Armbanduhr funkt, soll künftig den Blutzuckerwert genau und fortlaufend anzeigen können.

Die intensive Insulintherapie lohnt sich. Ist der Diabetiker nämlich nicht richtig eingestellt, entstehen ihm dadurch schlimme Folgeschäden wie Nierenversagen, Blindheit, Arteriosklerose und Nervenschäden. Diabetes beeinflusst auch die Blutgerinnung. Das Risiko, an den Folgen einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben, steigt erheblich. Die American Diabetes Association schätzt die direkten und indirekten Kosten der Krankheit auf 98 Milliarden Dollar allein in den USA. Dabei wird der Diabetes von Arzt und Patient häufig verharmlost – Motto beispielsweise: „Der Blutzuckerspiegel ist zwar etwas erhöht, aber das ist nicht so schlimm in diesem Alter.“ Doch hohe Blutzuckerwerte führen langfristig zu Spätschäden, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.

Zwei wichtige Studien, das „Diabetes Control and Complications Trial“ und die kürzlich veröffentlichte „United Kingdom Perspective Diabetes Study“ mit Typ-1- bzw. Typ-2-Diabetikern, haben gezeigt, dass die strenge Kontrolle der Erkrankung durch die intensive Insulintherapie die kostspieligen Komplikationen des Diabetes verhindern kann. Problematisch ist jedoch, dass viele Patienten die intensive Insulintherapie mit mehreren Insulininjektionen täglich ablehnen. Das Insulin zum Einatmen wird ihnen das mehrmalige tägliche Spritzen ersparen.

Das Einatmen bringt das Insulin direkt in die Lungen, wo es durch die dünnen Wände der Lungenbläschen aufgenommen wird – auf einer Oberfläche so groß wie ein Tennisplatz. Hierzu wurden von der US-Firma Inhale ein spezielles taschenlampengroßes Inhalationsgerät und winzige einzuatmende Eiweißteilchen mit 20 Prozent Insulin entwickelt. „Das Gerät ist sehr einfach zu bedienen“, versichert Paul Matelis, Versuchsperson in den Studien mit inhalierbarem Insulin. „Es schießt eine Dosis Trockenpulverinsulin direkt durch meinen Mund in die Lunge. Am besten geht es, wenn ich einen tiefen Atemzug mache und für fünf Sekunden die Luft anhalte.“

Fürs erste ist die Inhalation auf das rasch wirksame Normalinsulin beschränkt, so dass weiterhin Injektionen von langwirkenden Insulinen, die den Grundbedarf an Insulin rund um die Uhr decken, notwendig sind. Das jedoch bedeutet höchstens zweimaliges tägliches Spritzen und ist somit deutlich besser als vorher.

Wahrscheinlich wird es bald noch andere Möglichkeiten der Insulinaufnahme geben. Das kanadische Unternehmen Generex Biotechnology Corporation veröffentlichte Ergebnisse für sein oral – über den Mund – aufzunehmendes Insulin. Bisher erschien diese Art der Aufnahme ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Magensäure und Verdauungsenzyme des Darms zerstören das Insulin. Zudem kann Insulin nicht durch die Darmschleimhaut transportiert werden. Diese Schwierigkeiten konnte Generex Biotechnology Corporation umgehen: Das Unternehmen entwickelte eine Methode, um Insulin mit Hilfe eines Aerosol-Inhalators durch die Mundschleimhaut in die Blutbahn zu bringen und dort den Zuckerspiegel erkennbar zu senken. Generex gab weder bekannt, in welcher Form das Molekül verändert worden war, um den Transport über die Mundschleimhaut zu ermöglichen, noch welche Insulindosen eine Wirkung erzielten.

Ohne Inhalator geht es bei einem möglichen Insulinersatz, der geschluckt werden kann. Wissenschaftler der Merck Forschungslaboratorien in Rahway im US-Bundesstaat New Jersey entdeckten in einem Pilz aus dem Kongo eine Substanz, die bei Mäusen ähnlich wie Insulin wirkt: Sie senkt den Blutzuckerspiegel. Wie die Forscher im Wissenschaftsmagazin Science berichten, könnte die Substanz mit dem Namen „L-783,281“ Diabetikern in Zukunft das häufige Spritzen ersparen, denn auch oral eingenommen entfaltet sie ihre volle Wirkung.

Über 50.000 Substanzen testeten die Wissenschaftler auf der Suche nach diesem Wirkstoff. Dabei konzentrierten sie sich auf Stoffe, die durch Verdauungssäfte nicht zerstört werden und daher – im Gegensatz zum Insulin – geschluckt werden können. Das gesuchte Molekül sollte außerdem sehr klein sein, so dass es vom Darm aus ins Blut gelangen kann. Sie fanden schließlich das L-783,281: Das Molekül zeigte die Wirkungen des Insulins sowohl bei Tests an Zellkulturen als auch bei Versuchen an Mäusen. Doch noch ist die erste „Insulin“-Tablette in weiter Ferne. Denn als nächstes muss das L-783,281 erst einmal so verändert werden, dass es seine Nebenwirkungen verliert.