: Virtuelle Subversion
Das Hamburger Internet-Projekt „nadir“ will informieren und strömungsübergreifend linke Aktivitäten vernetzen ■ Von Anna von Villiez
Bald wird auch die letzte Joghurt-Marke, die letzte Vorabendserie, das letzte Häufchen Provinz-Skins sich auf dem digitalen Planeten einfinden. Im aufziehenden Zeitalter der Kommunikations- und Informationsmedien werden Transaktionen von der Banküberweisung bis zum Sockenkauf über Computernetze abgewickelt. Die erste Flutwelle des Netz-Hypes, die mit Verzögerung Mitte der Neunziger aus den USA auch nach Europa schwappte, ist inzwischen verebbt – mit dem Ergebnis, dass es im Internet zugeht wie im echten Leben.
Die Linke stand Computern im Allgemeinen und dem Internet im Besonderen immer eher skeptisch gegenüber. Doch kurz vor dem großen Boom ging ein linkes Hamburger Projekt namens nadir (arabisch: Fluchtpunkt in der Unendlichkeit) ans Netz, ein „strömungsübergreifendes Informationssys-tem zu linker Politik und sozialen Bewegungen“. Von 1994 an wurde ein Archiv aufgebaut, das Klassiker und neue Texte zu Antifaschismus, Feminismus, Mediendiskussionen etc. in grafisch nüchternem Format verfügbar macht. Gruppen, Projekten und Einzelpersonen aus einem breitgefächerten Spektrum von der Roten Hilfe über lokale Antifas bis zum Netzwerk Cuba sind auf 40 Websites vertreten. Als virtueller Info-Laden nutzbar, werden Periodika und Zeitschriften von Arranca bis Zeck angeboten, Email-Zugänge vergeben, Newsgroups bereitgestellt, Mailing-Listen verschickt.
Die Fäden laufen zusammen in der nadir-Kombüse. So nennt sich ein Kollektiv von etwa einem Dutzend Leuten, die meisten aus dem Antifa-Umfeld. Ein nadir-Terminal ist installiert in der B5 in der Brigittenstraße. Die Entwicklung innerhalb der Linken in den letzten Jahre hat das engagierte Programmierer-Team überrollt. Stießen sie anfangs auf chronisches Desinteresse, werden heute täglich über 1.500 Seiten vom Webserver abgefragt, mit Vorliebe zu aktuellen Ereignissen und Kampagnen.
In den Siebzigern hieß es bei Peter-Paul Zahl noch: „In dieser Gesellschaft ist der Computer eine Denkmaschine, die dem Sozialismus vorbehalten sein sollte, lediglich die Fortsetzung verkalkter Gehirne und riesiger Aktenberge, unendlich dauernder Tintenschmierereien mit anderen Mitteln.“ Technologieskepsis, Überwachungspara-noia im Zuge der Volkszählung und der Einführung computerlesbarer Personalausweise prägten linke Einstellungen Anfang der 80er Jahre.
Andererseits erkannte man auch das Potential des Rechners für Subversives. Euphorisch wurde die Hackerszene als Techno-Guerilla begrüßt und von Sabotage und Gegenmacht unter dem Motto „Hacker können die Wall-Street crashen“ geträumt. Man besann sich auf die italienischen Radiopiraten, Brechts Radiotheorie und H. M. Enzenbergers „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ erlebten ein Renaissance. Das Internet als kollektives Mastermind könne in der Zukunft Wissensmonopole aufbrechen und den Autor abschaffen, hieß es aus dem dazugehörigen poststrukturalistischen Diskurs, da jeder Empfänger ein potentieller Sender sei.
Der Computer wurde zur „Demokratisierungsmaschine“. 1991 entstand von München aus – wieder nach amerikanischem Manier – ein Mailboxverbund, das /CL-Netz, 1981 der Hamburger Chaos Computer Club. Der Netz-Hype gebar dann Initiativen wie nadir, Trend und Dada – linke Internetprojekte, die die neue Technik politisch fruchtbar machen wollten.
Während ehemalige Internet-Euphoriker wie Katja Diefenbach den Diskurs heute notorisch kritisch einfärben und die neue Technologie als kapitalistisches Werkzeug und Katalysator des Neoliberalismus verurteilen, hält das keinen Linken von der Computerbenutzung ab. Die professionelle, bebilderte Antifa-Berlin-Homepage offenbart exemplarisch das Bestreben des Untergrunds, sich in medienkompatiblem Gewand zu zeigen.
Olliver, 22, Informatik-Student und einer der nadir-Betreiber, meint: „Was sich im Netz zeigt, ist nur ein Abbild, die eigentliche Vernetzung findet dahinter statt. Das funktioniert wie eine Einschreibefolie.“ Ein Beispiel aus dem nadir-Kosmos illustriert die Chance politisch Aktiver, im Internet unverhoffte Öffentlichkeit zu erlangen: Seit eine politische Gruppe im Touristen-Örtchen Wurzen eine Homepage unterhält, laufen dem biederen Reiselustigen bei der Internet-Recherche vor dem Urlaub auch die subversiven Infos auf dem heimischen Bildschirm auf.
Das technische Potential ist bereitgestellt; fraglich ist, ob tatsächlich eine stärke Vernetzung stattfindet und der Dialog in der zersplitterten „Gegenöffentlichkeit“ auf multimediale Weise entfacht wurde. Olliver zumindest ist skeptisch: „Die Akteure im World Wide Web sind andere Leute. Wenn sich das Medium nicht in Richtung Diskussionsmedium entwickelt, können wir nicht als kleines Projekt eine Diskussionskultur aufbauen.“
www.nadir.org ; nadir-Café immer am ersten Mittwoch im Monat, Brigittenstraße 5
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