: Die Schonzeit für Hasen ist vorbei
Zuerst düpiert Hicham El Guerrouj über 1.500 Meter Spaniens Stolz. Nun will er sich zum unumschränkten Beherrscher aller Mittelstrecken aufschwingen ■ Aus Sevilla Matti Lieske
Mitten im Sommer ist in Spanien die Schonzeit für Hasen plötzlich vorbei. Ein Exemplar, dem die hiesige Bevölkerung besonders gern das Fell über die langen Ohren ziehen würde, heißt Adil Kaouch und stammt aus Marokko. „Ekelhaft“ nannte der spanische Europameister Reyes Estévez die Vorgehensweise, mit der die Nordafrikaner beim sehnsüchtig erwarteten 1.500-m-Rennen der Weltmeisterschaft in Sevilla im erstmals voll besetzten Stadion seine Hoffnungen sowie die seiner Landsleute Fermin Cacho und Andres Diaz zunichte machten und dafür sorgten, dass Titelverteidiger Hicham El Guerrouj die Laufbahn als Champion verließ.
Die 1.500 m sind ein Rennen, das bei großen Meisterschaften wie kein anderes von taktischen Konzepten und Geplänkeln bestimmt ist. Da wird um Positionen gerangelt, das Tempo verschleppt, da wird versucht, mit Rhythmuswechseln die Gegner zu zermürben, und am Ende wird gespurtet auf Teufel komm raus. Nicht so mit den Marokkanern und deren Superstar Hicham El Guerrouj. Der Weltrekordler liebt es schnell, ganz im Gegensatz zu den Spaniern, die ihre Erfolge stets feierten, wenn ausgiebig getrödelt wurde. Cacho lief seinen sensationellen Olympiasieg 1992 in Barcelona gegen den damals als unschlagbar geltenden Algerier Noureddine Morceli in einem Rennen heraus, das die meiste Zeit langsamer war als jenes der Frauen, Estévez wurde letztes Jahr in Budapest mit der schlechtesten Zeit seit 1966 Europameister. „Es gab drei Möglichkeiten“, erläuterte der marokkanische Teamchef Aziz Daouda, „entweder die Kenianer machen das Rennen schnell, oder es wird normal langsam, oder zwei Spanier setzen sich an die Spitze und bremsen. Das wollten wir nicht.“
Also wurde der junge Adil Kaouch als Tempomacher losgeschickt und lief die ersten 800 m exakt in der Zeit, die den besten „Hasen“ bei den großen Meetings mit Weltrekordanspruch vorgegeben wird: 1:52 Minuten. Der Untergang für die Spanier, die solches Vorgehen eigentlich eher von den für ihr Teamwork bekannten Kenianern erwartet hatten. „Was für eine Schande“, schimpfte Reyes Estévez entrüstet auf El Guerrouj und sein Langohr, „sie haben dem Finale die ganze Schönheit geraubt und es in ein Meeting verwandelt.“ Ganz so, als sei es ehrenrührig, bei einem Wettrennen schnell zu laufen. „Das Tempo hat mich fertig gemacht“, wetterte der 23-Jährige aus Barcelona weiter, immerhin war es erstaunlich, wie gut er sich dennoch hielt. Als Einziger der Spanier fand er in der Schlussphase die Kraft zu einer Attacke, die nur von El Guerrouj und dem Kenianer Noah Ngeny gekontert wurde. Vor seinen Landsleuten kam der Europameister auf Platz drei – und ärgerte sich grün und blau.
Zu gern hätte er in Sevilla gesiegt, doch gegen den Marokkaner, das zeigte dessen Finish, hätte er wohl auch bei anderem Rennverlauf keine Chance gehabt. „Er ist ein Genie, so wie Dali“, hatte Cacho schon vorher geschwärmt, allerdings hinzugefügt, „aber er ist trotzdem menschlich und kann scheitern.“ In Sevilla sah es nicht so aus. Nie habe er an seinem Sieg gezweifelt, sagte El Guerrouj, sprach fröhlich von einem „der besten Rennen des Jahrhunderts“ und hatte für die Hasen-Schelte der Spanier nur ein müdes Lächeln übrig. „Jeder besitzt seine Taktik“, sagte er lapidar, „schließlich waren wir nur zwei Marokkaner, aber drei Kenianer und drei Spanier.“ Wohl wahr, aber bei den Läufern aus dem Gastgeberland stand der Egoismus einem gemeinsamen Handeln entgegen. Mindestens einer hätte sich opfern müssen, und dazu war keiner bereit. Den Kenianern wiederum kam der Parforce-Jagd der Nordafrikaner entgegen, ihre neueste Entdeckung, der 20jährige Ngeny, lief komfortabel auf Platz zwei vor Estévez, Cacho und Diaz und verkündete anschließend, dies sei das letzte Jahr von El Guerrouj gewesen. „Nächste Saison bin ich dran.“
Der Marokkaner sieht das anders. Seine Ziele für die nächsten Jahre nehmen sich nicht gerade bescheiden aus. „Ich will viermal Weltmeister werden, außerdem Olympiasieger und alle Weltrekorde von 1.500 bis 5.000 Meter“, verkündete er in Sevilla. Angesichts der grandiosen Manier, in der er, nachdem Häschen Kaouch seine Arbeit getan hatte, den übrigen Läufern davonzog und im schnellsten Meisterschaftsrennen aller Zeiten nur rund anderthalb Sekunden über dem Weltrekord blieb, erschiene es nicht einmal vermessen, wenn er auch noch die 800 und 10.000 Meter dazupacken würde. Nordafrika bleibt vorerst die Heimat des 1.500 m-Laufes, auch nach dem Tod des wichtigsten Förderers von El Guerrouj, König Hassan II. Dessen Nachfolger sei bereits als Prinz ein großer Freund der Leichtathletik gewesen, teilt Aziz Daouda begeistert mit. „Wir haben keine große Sponsoren, nicht viel Geld, aber wir haben die Unterstützung des Königs.“ Und, nicht zu vergessen, Hicham El Guerrouj.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen