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■ Das Erdbeben in der Türkei hat auch das Vertrauen in den Staat nachhaltig erschüttert. Das ist eine Chance für die ZivilgesellschaftStaatsbankrott

Am Ende könnte eine Befreiung der Gesellschaft von nationaler Paranoia stehen

Das Zitat lässt kaum Spielraum für Interpretationen: „Das politische System der Türkei ist bankrott“. Der Urheber dieser Worte ist kein Linksradikaler und kein Anhänger des politischen Islam. Ein Mitglied des türkischen Kabinetts, der Tourismusminister Erkan Mumcu, zog diese Schlussfolgerungen nach dem Erdbeben am Dienstag letzter Woche in der Marmara-Region.

Unzählige Artikel beschäftigen sich inzwischen mit der Baumafia, mit Pfusch am Bau und korrupten Stadtverwaltungen, die Baugenehmigungen erteilen. Auch das Versagen der Behörden bei der Koordination der Rettungsarbeiten war ein großes Thema. Doch die Kritik in der türkischen Öffentlichkeit ist noch weit radikaler, als im Ausland wahrgenommen wird. Ein kurzer Streifzug durch die türkischen Tageszeitungen demonstriert dies.

„Wie kann ein politisches System, das im Normalzustand nicht funktioniert und vor dem Zusammenbruch steht, nach einem Katastrophenfall seine eigenen Ruinen beseitigen und Bürger retten“, fragt die Tageszeitung Cumhüriyet. Das Massenblatt Hürriyet schreibt in einem Kommentar: „Nicht nur Menschen sind mit dem Erdbeben unter Trümmern begraben worden, sondern auch der Staatsapparat. Unser Staat mitsamt seiner zivilen und militärischen Bürokratie. Diejenigen, die nach Reformen riefen, beschimpfte man als Staatsfeinde, Vaterlandsverräter und Republikfeinde. Doch heute stellt sich heraus: Der heilige Staat und die nationale Einheit liegen unter Ruinen.“ In einem Kommentar der Tageszeitung Sabah heißt es: „Bald wird die Zeit kommen, in der sich der Staat über die Bürger lustig machen wird. Wir werden zu hören bekommen: 'Der Staat ist mächtig‘. Die Herrschenden scheuen sich vor Selbstkritik und Transparenz. Stattdessen Propagandaphrasen: 'Das Zeitalter der Türken von der Adria bis zur chinesischen Mauer‘ “

Das Erdbeben, das nach Schätzungen 40.000 Menschenleben kostete und über 200.000 Menschen obdachlos machte, wird die türkische Politik nachhaltig verändern. Es hat aber auch gezeigt, wie stark die zivilen Strukturen in der Gesellschaft sind. Der Tatenlosigkeit von Regierung und Militär in den ersten Tagen stand die ungeheure Solidarität der Bevölkerung gegenüber.

Spontan hatten sich Tausende Initiativen gebildet, die vor Ort halfen. Ob es um Rettungsmaßnahmen ging oder um Unterstützung der Überlebenden. Während Politiker noch die Lüge verbreiteten, der Staat habe alles im Griff, machten sich unzählige Ärzte mit Gerätschaft in die Katastrophenregion auf. Regierungsunabhängige Organisationen beschlagnahmten Gelände und begannen mit dem Aufbau von Zelten. Der Verkehr zum Erdbebengebiet wurde tagelang von jugendlichen Freiwilligen kontrolliert, die sicherstellten, dass Rettungsfahrzeuge und Ambulanzen durchkamen. Erst nach fünf Tagen ließ sich die Verkehrspolizei blicken.

Als nach dem Erdbeben der Staatspräsident buchstäblich im Dunkeln lag, weil in seinem Privatsitz in Istanbul Strom und Telefon ausfielen, hatten einzelne Initiativen schon Hunderttausende von E-Mails geschickt, um konkrete Hilfe zu organisieren. Kaum jemand hat in der Türkei in den Tagen nach dem Erdbeben auf die staatlichen Konten gespendet. Die Tausenden Initiativen erschienen den Menschen glaubwürdiger. Über politische Differenzen hinweg hielten die Menschen zusammen und zeigten praktische Solidarität.

Der allgegenwärtige Zorn und die Wut auf Ankara waren diesmal, wie sonst häufig nach Naturkatastrophen, nicht entpolitisierte Hilfeschreie. Der Staat hatte sich nach der Katastrophe in nichts aufgelöst. Also mussten die Bürger das Überleben in die eigenen Hände nehmen: Und alle zogen an einem Strang.

45 Sekunden hatte die Erde gebebt, und mehr Menschen starben als in dem fünfzehnjährigen Krieg in den kurdischen Regionen. Doch obwohl die Naturkatastrophe im Gegensatz zur kurdischen Tragödie nicht von der Politik zu verantworten ist, könnten die politischen Folgen langfristig noch einschneidender sein.

In dem kurdischen Konflikt gab es durch die Frontstellung zwischen türkischer Armee und PKK keine politische Alternative. In den kurdischen Regionen selbst kann von einer entfalteten, bürgerlichen Gesellschaft nicht die Rede sein.

Anders in der Marmara-Region, die das industrielle Kernland der Türkei bildet und 35 Prozent des Bruttosozialproduktes erwirtschaftet. Hier blieb es nicht beim Zorn auf den versagenden Staat. Hier waren die politischen Alternativen in den Köpfen der Menschen präsent. Hatten nicht Umweltschützer davor gewarnt, die durch das Erdbeben zerstörte Kanalisation durch den Sapanca-See zu bauen? Hatten nicht korrupte Politiker trotz Warnung der lokalen Architektenkammer den Bauspekulanten in gefährlichen Zonen Baugenehmigungen erteilt?

Die extreme Politisierung der Debatte kommt selbst dann zum Ausdruck, wenn die zahlreichen Experten – Seismologen, Geologen und Bauingenieure – interviewt werden. Der Geologieprofessor Celal Sengör verweist in einem Interview mit der Zeitung Milliyet auf Gutachten der Universität Istanbul, die eindringlich davor warnten, eine Erdölraffinerie in Izmit zu errichten. Auf die Frage, warum die Politik die Ratschläge der Wissenschaft nicht beherzigt habe, antwortet der Geologe: „Was erwarten sie? Der Parlamentspräsident hat jüngst gesagt, dass Kurdisch keine Sprache, sondern ein Dialekt ist.“

Der Staat hat sich in der Stunde der Not vor aller Augen faktisch aufgelöst

Der repressive Staat hat in der Stunde der Not nicht nur seine Daseinsberechtigung verloren, weil er schlicht und für alle sichtbar nicht in der Lage war, seine elementaren Aufgaben zu erfüllen. Er büßt auch die ideologische Hegemonie ein. Während die türkischen Medien Tag für Tag die griechische Hilfe für die Erdbebenopfer feiern, wird der Gesundheitsminister, der keine Blutkonserven aus Griechenland annehmen wollte, als „Verräter“ und „Rassist“ gebrandmarkt. Wenige Tage nach dem Erdbeben druckte Hürriyet den Hilfeaufruf des Führungsrates der PKK – unkommentiert.

Zur Rechtfertigung der Repression konnte sich der türkische Staat bisher stets auf eine Umzingelung durch bedrohliche, mächtige „äußere Feinde“ berufen. Als Folge der breiten internationalen Hilfe beginnt die Gesellschaft jetzt, sich selbst von solchen Ängsten zu heilen. Ein Selbstheilungsprozess der Gesellschaft von der Paranoia. Die eine oder andere Amtsenthebung von Gouverneuren oder ein Rüffel für den Gesundheitsminister werden den gesellschaftlichen Protest kaum auffangen können. Der anachronistische politische Überbau erzittert.

Ömer Erzeren

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