: Vierzig Jahre im Verschlag
In einem Dorf in der tiefsten Provinz Portugals, weitab von den Zentren wie Lissabon und Porto, wurde ein geistig Behinderter jahrzehntelang in einer Garage von seinen Eltern eingeschlossen gehalten. Erst ein Zeitungsartikel scheuchte die Sozialbehörden auf, seinem Leid ein Ende zu setzen. Notizen aus Viseu von Antje Bauer
Der Taxifahrer in Tondela faltet erfreut den Karton zusammen, den er als Sonnenschutz unter den Scheibenwischer geklemmt hat. „Nach Borralhal in der Gemeinde Barreiro de Besteiros.“ Ein Ort, so klein, wie sein Name lang ist. Doch der Mann weiß, wo das liegt. Die meisten Dörfer hier in der Gegend bestehen nur aus einer Handvoll Häuser und sind in keiner Landkarte zu finden. Im besten Falle werden diese Flecken einmal täglich von einem öffentlichen Omnibus angefahren. Brautpaare, Schwangere, Kranke und Sterbende werden deshalb öfters mit dem Taxi gefahren, weshalb die hiesigen Kutscher die Weiler wie ihre Westentasche kennen.
„Vierzig Jahre in einem Keller eingesperrt“, hatte die seriöse Tageszeitung Jornal de Noticias getitelt. In einem kleinen Ort in der Nähe der Kreisstadt Tondela in Mittelportugal werde ein geistig Behinderter seit seiner Kindheit von seinen Eltern in einem winzigen Verschlag gehalten. Vier Jahre zuvor sei die Reporterin bereits dort gewesen, doch seither habe sich an den menschenunwürdigen Lebensbedingungen dieses Mannes fast nichts verändert. Ein Kaspar Hauser im Portugal des zwanzigsten Jahrhunderts?
Die Landstraße führt in großen Schleifen durch Laubwälder; in Abständen verliert sich eine Ansammlung Häuser zwischen Bäumen, in Gemüsegärten steht der Kohl mannshoch. Hier treibt eine Frau eine Kuh auf ein Feld, dort kommt ein Bäuerchen mit geschulterter Hacke des Wegs; es ist kaum Verkehr auf der Straße, allein die Vögel sind nicht still.
Am Ende einer schmalen Straße, dort, wo der Wald beginnt, steht eine klapperdürre Frau und sammelt Reisig. Ein paar Meter entfernt schiebt ihr Mann eine Schubkarre voller Heu vor sich her. Aus einem kleinen Maisfeld im umzäunten Gemüsegarten taucht ein altersloser Mann mit kurzem Bart und zerzaustem Haar auf. Mit einem Trainingsanzug bekleidet, trottet er auf Strümpfen daher, den Rücken leicht gebeugt, die Arme hängend; die Augen sind geöffnet, aber sein Blick hält nichts fest.
Die kleine alte Frau lässt sich ächzend auf der Schwelle eines Schuppens nieder, ihr Mann stellt sich daneben. Und dann erzählen sie. Vier Kinder hat die Frau geboren. José Luis, das jüngste, erkrankte wenige Monate nach seiner Geburt an einer Gehirnhautentzündung. „Wir sind nach Viseu gefahren, nach Tondela, wir haben viel Geld ausgegeben, aber dann haben uns die Ãrzte gesagt, wir sollen aufhören damit, er sei geistig behindert, da sei nichts zu machen. Da haben wir ihn mit uns nach Hause genommen.“ Bauern sind sie, hier in der Gegend geboren und aufgewachsen, kaum die Schule besucht, immer hart gearbeitet, wie alle hier.
José Luis wuchs zunächst bei ihnen auf, in dem zweistöckigen Haus auf der anderen Seite des Gemüsegartens. Er lernte leidlich gehen, sprach aber nicht und verstand auch nicht, wenn man mit ihm sprach. Mit seinem trottenden Gang kommt er nun auf den Schuppen zu, drängt sich an seiner Mutter vorbei und setzt sich auf den Strohboden. Fast vierzig Jahre ist er alt, doch die Jahre haben keine sichtbaren Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Auf dem Boden hat er ein Stück Packpapier entdeckt, das er mit beiden Händen in kleine Schnipsel zu zerreiben beginnt. Dabei gibt er ein leises Wiehern von sich.
Als das Kind größer und kräftiger wurde, teilten die Eltern in der Garage neben dem Wohnhaus eine Zelle für es ab, um es dort einzusperren. „Er machte alles kaputt, wir konnten ihn nicht halten“, sagen die Eltern entschuldigend. Vielleicht war es auch ein Versuch, die Schmach eines behinderten Kindes wegzuschieben. Die Tür zu dieser Zelle steht an diesem Tag offen: vier Quadratmeter Raum zwischen Betonwänden. Von einer Luke fällt ein Schimmer Tageslicht herein. Auf dem Betonfußboden liegt eine schmuddelige Matratze, daneben ein Nachttopf und ein Becken für Fäkalien. In diesen vier Quadratmetern Horror hat José Luis den Großteil seines Lebens verbracht.
„Vor etwa vier Jahren tauchten hier in Portugal viele Fälle von geistig Behinderten auf, die misshandelt wurden, vor allem hier, im Landesinneren, und ich wurde von jemandem auf den Fall dieser Person in Borralhal aufmerksam gemacht. Obwohl wir damals schon etwas abgebrüht waren wegen all der Fälle, war ich doch ziemlich schockiert über das, was ich dort sah. Wir machten die Tür auf, und José Luis schaute erschrocken ins Licht – er war nur an die Dunkelheit gewöhnt“, erinnert sich Teresa Cardoso, Korrespondentin der Tageszeitung Jornal de Noticias in Viseu, die den Fall aufgedeckt hat. „Als ich kürzlich erneut hinkam, hatte sich fast nichts verändert. Ich schaute durch die Luke, und er stand in dem Raum, vom Bauchnabel abwärts nackt, neben sich zwei mit Urin gefüllte Eimer, in die er seine Finger tunkte. Es stank abscheulich.“ Die Reporterin vermutet, es könne noch eine Reihe weiterer solcher Fälle geben, vor allem hier im Binnenland, für das sich die Menschen in Lissabon und den anderen großen Städten meist nicht interessieren.
Am Morgen meines Besuchs war José Luis zu einem Arzt gefahren worden, und da er die Zelle nun einmal verlassen hatte, durfte er auch nach seiner Rückkehr noch ein wenig Freiheit genießen – was vermutlich mit dem Artikel von Teresa Cardoso zu tun hat. Denn seit er von den Ärzten aufgegeben worden ist, hatte sich behördlicherseits jahrlang fast niemand mehr um ihn gekümmert.
Im Schuppen raschelt das Stroh, wenn José Luis sich bewegt, unermüdlich zerreißt er das Papier in Fetzen, wiehert nur gelegentlich. Um ihm die Haare zu schneiden oder den Bart, benötigen die beiden Alten inzwischen die Hilfe anderer Personen. Alle vier Tage kommt eine seiner Schwestern vorbei, dann wird er gewaschen. Ansonsten bekommt er dreimal am Tag einen Napf mit Essen durch einen Spalt geschoben. Die Eltern sind schwach geworden. Um die achtzig sind sie jetzt beide. Die paar Felder, die sie hatten, haben sie ihren drei gesunden Kindern vermacht. Die Kraft reicht nicht mehr, um sie zu bebauen.
Nun ist noch dieser große Gemüsegarten geblieben, mit Mais und Bohnen, Kartoffeln und Kohl. „Was wird aus dem Kind, wenn wir nicht mehr sind“, fragen die beiden. „Wer kümmert sich um ihn, wenn wir es nicht mehr tun?“ Zwar wohnen die drei Geschwister des Behinderten in der weiteren Nachbarschaft, aber alle haben inzwischen ihre eigene Familie gegründet und finden keine Zeit, sich um José Luis zu kümmern.
Bleiben also die Eltern und ihr zwiespältiges Verhältnis zu dem Sohn. Ihre Zärtlichkeiten ihm gegenüber wirken bemüht, er reagiert auch nicht darauf. Immer folgt ihr Blick seinen Bewegungen, und als er den Schuppen verläßt und sich zum Wohnhaus aufmacht, läuft ihm seine Mutter sofort hinterher. Auf allen vieren kriecht die kleine Frau hinter ihm die steilen Treppen ins Haus hinauf. „Wir würden ihn ja gerne behalten, wenn es ginge, wir lieben ihn doch“, sagt er Vater, und in seinen Augen sind Tränen zu sehen.
Zurück in die Kleinstadt Tondela. Ein gemütliches Städtchen. Unter den ausladenden Ästen eines Baumes sitzt eine Gruppe Männer und diskutiert. Am lautesten redet der Schlachter im weißen Kittel, der von seinem Platz aus sein Geschäft im Auge behält. Wenn sich eine Kundin nähert, verlässt er kurz die Runde. Auch in der „Segurança Social“, der Sozialversicherung, herrscht ein familiärer Ton. Eine beleibte Dame mittleren Alters nimmt sich der Anwesenden an, begrüßt sie mit Namen, fragt nach dem Wohlergehen – man kennt sich. Nach José Luis Ferreira befragt, macht sie einen großen Satz rückwärts. Von einem Menschen mit diesem Namen wisse sie nicht, erklärt sie bleich. Schließlich könne sie nicht alle Leute kennen, die hier in der Gegend leben. Im ganzen Saal herrscht plötzlich betretene Stille. Die „Segurança Social“ ist für die Betreuung von José Luis Ferreira zuständig. Aber erst nach Vorhaltung des Zeitungsartikels will man sich vage an den Fall erinnern. In Viseu, lautet schließlich die abweisende Antwort, sei mehr zu erfahren.
Viseu ist eine richtige Stadt mit ordentlich Verkehr, einer Fußgängerzone, einer Benetton-Filiale, einem alten Stadtpark und einer kilometerlangen, engen, von den Arabern geerbten Altstadtgeschäftsstraße. Er sei relativ neu auf diesem Posten und habe von dem Fall José Luis erst vor wenigen Monaten erfahren, versichert Manuel João Leitão, der Direktor der „Segurança Social“ für den Kreis Viseu. Doch habe er sogleich die ersten Maßnahmen eingeleitet. In Mittelportugal fehle leider die Infrastruktur, um solche Fälle angemessen zu behandeln. Er sei aber optimistisch, dass José Luis in einer halbprivaten Institution aufgenommen werden könne.
Einige Zeit später wird José Luis Ferreira in einem Heim für Behinderte untergebracht. Er lernt, in einem richtigen Bett zu schlafen und Menschen um sich zu haben. „Er ist nicht wiederzuerkennen“, sagt Teresa Cardoso, die ihn in seinem neuen Zuhause besucht hat. „Er ist sauber, ist angezogen und kann herumlaufen. Er hat gelernt, in einem Bett zu schlafen. Nur wenn man ihm seine Papierschnipsel wegnimmt, wird er wütend.“
Manchmal nützen Presseberichte. Wenn auch erst nach Jahren.
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