Die DDR als Hippie-Republik

Von wegen Huhu, Zoni! Jetzt wird zurückgespottet! Der neue Roman von Thomas Brussig ist eine Spitzenleistung der Spaßguerilla Ost: Von der Art, eine Mauerkomödie zu schreiben, in welcher die behauptete Schönheit der DDR den Wessi blendet  ■   Von Anke Westphal

Am Anfang war nicht das Wort, sondern ein Gemüseladen. Er krönte jene Ecke Ostberlins, an der Neukölln auf Treptow traf und die Sonnenallee auf der Baumschulenstraße endete. Im kleinen Gemüseladen bediente eine unglücklich wirkende Frau, während ihr Mann, immer eine Helmut-Schmidt-Mütze auf dem Kopf, die schweren Kisten stemmte. Wenn zu Pfingsten, Ostern und Weihnachten dicke, glänzende Westautos in größerer Zahl den Grenzübergang Sonnenallee passierten, um in die Baumschulenstraße einzubiegen, wurden sie von der Gemüsefrau laut bewundert. „Sehen die nicht schön aus!“ rief die vor Schmerzen mürrische Frau, den Blick wie abwesend in die Ferne gerichtet. Vom Westen hat die Frau dann nicht mehr viel gehabt; kurz nach dem Fall der Mauer starb sie an Krebs, und ihr Mann gab den Laden auf.

Der Laden existierte also. Die Autorin dieses Artikels muss es wissen, denn sie hat elf Jahre lang drei Stockwerke darüber gewohnt. Jetzt hat sie es sogar schriftlich. Der neue Roman von Thomas Brussig, der mit „Helden wie wir“ den erfolgreichsten Roman zur Maueröffnung geschrieben hat, spielt nämlich „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“, und der kleine „Gemüseladen mit einem traurigen Angebot (Suppenjrün det janze Jahr üba)“ spielt darin eine große Rolle. Nachdem Brussigs juvenile Helden nämlich einen üblen Skandal zum Nachteil der DDR verursachen, ist der Laden „denen da oben“ peinlich. „Suppenjrün“, Äpfel, Kohl und weiter nichts – nein, so sollte der letzte Gruß an den Klassenfeind vor Grenzübertritt nicht aussehen.

Wer hat behauptet, dass die Kunst vom Leben abschreibt? An diesem kühlen Montagmorgen sagt Thomas Brussig, er habe nicht gewusst, dass der kleine Gemüseladen tatsächlich existierte. Er habe auch nie „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ gewohnt – für ihn ein metaphorischer Ort. Man sollte ihm ruhig glauben, denn Brussig ist ein freundlicher und auskunftsfreudiger, genauer gesagt: ein sehr präziser Mann. Ein Autor erfindet, auch das ist metaphorisch, was es gibt und gab. Die Sache mit dem Laden lief also in der Wirklichkeit so lala und läuft im Roman (merke: Überwindung der Wirklichkeit) aus dem Ruder.

Aus Gründen der politischen Bildung wurden bekanntlich westliche Schulklassen und Reisegesellschaften zur Mauer geführt, um solidarische Blicke in den Osten zu werfen. Gern machten sie sich auch einfach nur lustig: „Guck ma', ein Zoni! Iiiih, wie der aussieht und was der anhat! Huhu, Zoni!!!!!“ Das Lachen der solidarischen Wessis klang hässlich. 1988 wurde der damals nur potentielle Autor Thomas Brussig im Mauer-Einzugsgebiet Schwedter Straße selbst Opfer solchen Hohns. Jawohl, vom Aussichtsturm herab, aus den Höhen der Freiheit, verspottet und gedemütigt!

Was Brussig damals nicht tat, gestattet er zehn Jahre später seinen Romanhelden Micha, Wuschel und Mario. Angesichts höhnischer Westmenschen, die satte Blicke ins Reservat DDR werfen, krümmen sich die drei Jungs mit hohlen, nach innen gezogenen Wangen und jammern ersterbend „Hunger! Hunger!“ Ein Klassenfeind dokumentiert diese unhaltbaren Zustände „in der sogenannten DDR“ mit der Kamera, die Partei kriegt das spitz, woraufhin der Grenz-Gemüseladen ...

Brussigs Spiel heißt „Wir ziehen einen Kreis“. Es beinhaltet, so von Romanfigur zu Romanfigur, eine unglaubliche Verarschung, die Spitzenleistung einer pubertär-östlichen Spaßguerilla – nicht das letzte Mal, dass der Leser vor Lachen vom Sofa kullert. Doch auf dem Weg vom Autor zum Leser marschiert die Verarschung durch eine Hintertür ins erzählerische und politische Brachland. „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ soll, so will es der Autor, eine Komödie à la Woody Allens „Radio Days“ sein.

Die Mauerkomödie spielt in den siebziger Jahren, in einem besonders toten Winkel Ostberlins unter siebzehnjährigen Jungen, hat aber nichts mit männlicher Krabbelgruppen- oder Adoleszenzprosa zu schaffen. Brussig erzählt episodisch aneinander gekettelte Geschichten im und aus dem Schatten des berühmtesten deutsch-deutschen Bauwerks, und das mit argloser Freundlichkeit. Das ist tatsächlich mal was Neues und möglich, weil der Autor von einem Umkehrschluss ausgeht. Er nimmt das heute oft „weiche Erinnern an die DDR“ wörtlich und projiziert es in die Vergangenheit zurück. „Jetzt wird die DDR als schön empfunden, doch früher konnte sie keiner leiden!“

Brussig behandelt das erfundene Leben in seiner „Sonnenallee“ also wie eine historische Tatsache. So als wäre eine gegenwärtige Verklärung das fotografische Abbild einer früheren Tatsache. Als wäre ein Wunsch gleichzeitig seine Erfüllung, ein Bild auch identisch mit seinem Modell. Die im Roman angewandte Methode, „vom falschen Ende anzufangen, einen gängigen Irrtum, ein gegenwärtiges Missverständnis ernst zu nehmen und in Literatur umzusetzen“, ist so verblüffend wie unterhaltsam. Ihr Erfinder Brussig scheut die populäre Form nicht. Die DDR galt der Mehrzahl der Einwohnenden (oder Einsitzenden) damals tatsächlich noch nicht als ein ganz schlechter Ort, aber die DDR-Welt des Buchs ist aufs Unglaublichste schön. Der ideologische Druck in Polytechnischer und Erweiterter Oberschule oder Hausgemeinschaft endet für Romanfiguren und Leser im Witz, der Mangel in HO und Arztpraxis ist eine Pointe. Es läuft wie in dem DDR-Witz: „Hamse dies und das?“ – „ ,Hamse‘ hamwa nicht!“

Wer ein Buch schreibt, will auch immer etwas herausfinden. „Das Gegenteil von Erinnern“, so lehrt Brussig, „ist nicht Vergessen, sondern Merken.“ Deshalb, aus Gründen des Unmuts, übertreibt sein neues Buch den wohligen Vorgang des weichzeichnenden Erinnerns ins Unendliche. „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ beschreibt die DDR nämlich als die Hippie-Republik, die sie auch war. Erzählperspektive: männlich, ledig, spätpubertär. Partys, Platten, Verliebtsein, antietablierte Tricksereien und coole Sprüche. „Es ist ein Buch, das Wessis neidisch darauf machen soll, nicht in der DDR gelebt zu haben.“ Bei so einem Anspruch müsse ja irgendwas nicht stimmen. Der kichernde Brussig ist auf eine Verklärung der Verklärung aus, nicht auf Abrechnung.

Brussig ist ein vielbeschäftigter Mann: Co-Autor von Edgar Reitz bei dessen „Heimat“-Fortsetzung, ewig auf Lesereise und nächtens grübelnd über einem neuen Theaterstück (Kommentar „ernste Opferperspektive“), das die Regisseurin Kirstin Ziller (Brussigs Lebensgefährtin) inszenieren wird. Brussigs Dramaturgiestudium an der Potsdamer Filmhochschule geht schon jahrelang ins fünfte Semester, doch „meine Mutter hätte doch gern, dass ich es abschließe“.

Der Erfolg von „Helden wie wir“ kam dem Sohn dazwischen, und dann kostet es ja auch Zeit, das unerwartet eingenommene Geld privat sowie steuerlich anzuwenden. Was „Sonnenallee“ angeht, so macht sich Brussig gewisse Sorgen, für seine „Verharmlosung einer Verharmlosung“ von den Opfern der DDR angegriffen zu werden. Man liest und ist die ganze Zeit baff – auch über manches, was das Buch eher als Produkt berührt. Über die nicht sonderlich sympathische Synchronizität von Roman, Romanverfilmung (Regie: Leander Haußmann, Start: 7. Oktober, DDR-Gründungstag. Musste der Termin sein?) und der Werbung für beides beispielsweise. Verblüfft auch über die Deckungsgleichheit von mehr oder weniger verklärendem Erinnern und Spaß-dabei-Haben, was die Rezeption nicht unwesentlich beeinflussen dürfte. Dem Ostleser zwischen dreißig und vierzig wird das Wiedersehen mit den Requisiten der eigenen Pubertät Freude machen – mit dem Multifunktionshubtisch, dem Neuen Deutschland, dem – Schlüsselwort! – „Überspielen“ von T. Rex und Wonderland („Moscow!“) im WiWeNa-Jugendzimmer. Der Sound der AWO (in der DDR ein altes Liebhaber-Motorrad) ist noch einmal zu hören, das Transitvisum hat sein Kapitel, selbstkritische Beiträge auf dem FDJ-Lehrjahr und die Jagd nach Rolling-Stones-Platten haben ihre auch.

Dieses Buch berichtet von der DDR in etwa so, wie das satirische Buch eines in London lebenden indischen Autors von Indien und London berichtet. Der Bruch, die Zeitenwende von 89, sogar die BRD wird bei Brussig immer mit erzählt, ob nun Micha vom Aussichtsturm herunter verhöhnt wird oder Michas Westonkel Heinz zu Besuch kommt. Brussigs neue Helden, die durchaus so sind wie Ossis früher, sie alle könnten sich ihr Taschengeld mit Sprücheklopfen verdienen. Insofern appelliere das Buch durchaus an die niederen Instinkte des Lesers. Behauptet der Autor: Philosophiert werde bei ihm erst nach neun Uhr abends.Und doch bedingt der Inhalt zweckmäßig die Form. „Die DDR war langweilig, aber es war immer was los“, so Brussig im Gespräch. Im Buch steht es ähnlich: „Es wäre ewig so weitergegangen. Es war von vorn bis hinten zum Kotzen, aber wir haben uns prächtig amüsiert ... Wir stürmten in die Zukunft, aber wir waren so was von gestern. Mein Gott, waren wir komisch, und wir haben es nicht einmal gemerkt.“

Die überschöne Enklave ist bei Brussig auch Welttheater, das macht schon das Glotzen der Wessis von ihren Türmen, auch eine Art Zuschauerrang, deutlich. Der westliche Teil des Landes glotzt noch heute so, meist unter dem Vorwand, ihn erklären oder verstehen zu wollen – auf den Osten, nur dass der Osten jetzt (von Rammstein zum Skin) in bockiger Hässlichkeit zurückglotzt.

Vor zehn Jahren war die Mauer für „die Einsitzenden“ kein Scherz: Der Bruch von 1989 war für die Ex-DDRler eine reale Erfahrung, für die Westdeutschen nicht. Findet nicht nur Brussig. Doch eine Erklärung ist auch nicht mehr als eine Erklärung und keine Wirklichkeit. Brussig vertritt zur verfahrenen deutsch-deutschen Verwandtschaft seine eigene Theorie: „Die BRD hat die Einheit benötigt, um die unguten Gefühle gegenüber der eigenen Lebensweise stillzustellen.“ Schon aus diesem Grund möchte der Mittdreißiger, wie in diesem neuen Buch, „nach beiden Seiten hauen“. Thomas Brussig: „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“. Volk & Welt 1999. 158 S. 28 DM