Angst und Hoffnung vor dem Referendum

■  Viele Osttimoresen beginnen sich zu fragen, wie ihre Heimat nach der Abstimmung auf sich allein gestellt überleben kann

Dili (taz) – Anfang August ist Cancio Xavier nach Ost-Timor zurückgekehrt. „Ich werde hier gebraucht“, sagt der 28jährige Anwalt, ein zierlicher und zurückhaltender Mann. Auch der junge timoresische Arzt Sergio Pereira, der in Jakarta praktizierte, ist vor wenigen Tagen wieder in Dili angekommen – „fest entschlossen“, sich hier niederzulassen. Die beiden gehören zur winzigen Schicht gut ausgebildeter Rückkehrer, die vom Aufbruch in eine neue Ära der Freiheit träumen.

In Ost-Timor liegen vor der heutigen Volksabstimmung, Hoffnung und Angst dicht beieinander. Als Xavier und Pereira von Bord des Fährschiffs im Hafen von Dili gingen, kamen ihnen Hunderte schwer bepackter Menschen entgegen: Indonesische Ärzte, Lehrer, Beamte, die wie viele andere in den letzten Monaten nur eines im Sinn haben: Ost-Timor zu verlassen und auf einer anderen indonesischen Insel neu anfangen – solange sie noch können. Sie fürchten, dass die Osttimoresen nach einem Referendum für die Unabhängigkeit blutige Rache an den „Handlangern der Indonesier“ nehmen könnten. Patienten müssen deshalb in zahlreichen Krankenstationen lange auf Hilfe warten. Nach den Ferien werden viele Schüler in ihren Klassenzimmern vergeblich auf ihre Lehrer warten.

Noch eine andere Bevölkerungsgruppe hat sich in den letzten Tagen nach Australien, Bali oder Java abgesetzt: Vertreter der kleinen osttimoresischen Unternehmerelite. Auch sie fürchten um ihr Leben. Der schwerreiche Geschäftsmann Gil Alves erhielt Morddrohungen pro-indonesischer Milizen. Diese verdächtigten ihn und andere prominente Geschäftsleute des Verrats an der indonesischen Sache. Sie hätten, so der Vorwurf, bereits klammheimlich Kontakte zum verhaßten Guerillaführer Alexandre José „Xanana“ Gusmao geknüpft, um auch in einem unabhängigen Ost-Timor unbehelligt ihren Geschäften nachgehen zu können. Der charismatische Gusmao soll sogar schon Manager des größten osttimoresischen Konglomerats „Denok“, das dem indonesischen Militär nahe steht, zu sich nach Jakarta eingeladen haben, um sie zu überreden, auch im Fall der Unabhängigkeit nicht plötzlich aus Ost-Timor zu verschwinden.

Dass Gusmao um die Unternehmer wirbt, ist nur zu verständlich. Viele Osttimoresen fragen sich, wie in aller Welt ihre kleine Heimat in Zukunft überleben kann. Außer dem Arabica-Kaffee, wegen seiner Reinheit und Milde auf dem Weltmarkt seit einigen Jahren heiß begehrt und teuer gehandelt, hat Ost-Timor wenig zu bieten. Obwohl bis zuletzt rund 100 Millionen Dollar jährlich aus der indonesischen Staatskasse flossen, blieb die Bevölkerung bitterarm. Bisweilen bleibt den Osttimoresen nur die Hoffnung auf bessere Zeiten. Manche würden gerne die idyllische Insel mit ihren palmengesäumten Stränden in ein Touristenparadies verwandeln. Doch solange schiesswütige Milizen in den Strassen von Dili Jagd auf politische Gegner machen, dürfte sich kein Tourist nach Ost-Timor wagen. Der Traum von sprudelnden Einnahmen aus den Erdöl- und Erdgasfeldern im Meer zwischen Timor und Australien, dem sogenannten „Timor-Graben“, hat sich noch nicht bewahrheitet: Anstatt der erhofften Milliarden flossen nur 1,1 Millionen Dollar im vergangenen Jahr in die Kassen der Australier und Indonesier, die sich die Einkünfte bislang teilen. Die Sandelhölzer, traditionelles Exportprodukt, sind mittlerweile fast aus Ost-Timor verschwunden. Der Abbau großer Marmorvorräte in den Bergen kommt nicht vorran.

In den Augen von Florentino Sarmento, des 47-jährigen Gründers der osttimoresischen Entwicklungshilfe-Organisation „Etadep“, ist es deshalb „reiner Wahnsinn, wenn wir uns jetzt von Indonesien trennen“. Sarmento: „Was für eine Unabhängigkeit ist das? Sollen wir Indonesien verlassen, nur um uns statt dessen von australischen und amerikanischen Dollars abhängig zu machen?“ Insgesamt, so schätzten osttimoresische Experten, braucht die Insel zum Überleben in den nächsten fünf Jahren rund eine Milliarde Dollar.

Armindo Maia, Ökonom und ehemaliger Vizerektor der kleinen Universität von Ost-Timor, macht sich ebenfalls keinerlei Illusionen über die wirtschaftlichen Aussichten seiner Heimat. Aber der Gedanke, auf Kredite und Spenden aus dem Ausland angewiesen zu sein, schreckt ihn nicht: „Schlimmer als bisher kann es nicht werden“. Anwalt Xavier, der Rückkehrer, will sich ebenfalls nicht entmutigen lassen. „Wir sind doch Armut gewöhnt“, sagt er. „Wir werden es ertragen.“ Jutta Lietsch