Weniger Ausstieg, mehr Einstieg, Herr Schröder?

„Täglich ein guter Grund für den Ausstieg“ (Folge II): Die Macht der Atomindustrie wächst gefährlich. Der Einstieg in die Nutzung erneuerbarer Energieträger wird verzögert. Das Problem der Energiekonsensgespräche ist, dass darüber kaum geredet wird  ■   Von Lutz Mez

Was steht im Koalitionsvertrag zur Frage des Atomausstiegs?

Grüne und SPD haben im Koalitionsvertrag vereinbart, den Ausstieg aus der Atomenergie innerhalb dieser Legislaturperiode „umfassend und unumkehrbar gesetzlich“ zu regeln. Als erster Schritt war – als Teil des 100-Tage-Programms – eine Änderung des Atomgesetzes vorgesehen. In einem zweiten Schritt sollten ein Jahr lang Gespräche mit der Stromwirtschaft über eine neue Energiepolitik geführt werden, um Schritte zur Beendigung der Atomkraftnutzung und Entsorgungsfragen „möglichst im Konsens“' zu vereinbaren.

Danach wollte die Koalition – als dritten Schritt – per Gesetz den Atomausstieg entschädigungsfrei regeln und darin die Betriebsgenehmigungen zeitlich befristen sowie den Entsorgungsnachweis anpassen. Nach der ersten Gesprächsrunde wollten die Betreiber weder für den Atomausstieg noch für das Ende der Wiederaufarbeitung konkrete Daten nennen.

Berechnen sich die Restlaufzeiten auf der Basis von Volllast- oder von Kalenderjahren?

Die Diskussion konzentrierte sich mangels konkreter Daten auf die Laufzeiten der Atomkraftwerke. Nach den Vorstellungen der Atomindustrie gibt es einen entschädigungsfreien Ausstieg nur, wenn die bestehenden Atomkraftwerke 40 Volllast-Jahre lang betrieben werden können. Nun existiert mit dem Reaktordruckbehälter in Atomkraftwerken tatsächlich eine Komponente, die sogar für 40 Volllast-Jahre ausgelegt sein muss. Dies gilt jedoch nicht für alle anderen Bauteile, die für den Betrieb ebenso wichtig wie der Druckbehälter sind. Beispielsweise sind die Frischdampfleitungen oder die Wärmetauscher bereits viel eher verschlissen und müssen mittels sehr aufwendiger und teurer Reparaturen erneuert werden.

Weltweit betragen die Betriebszeiten der in den letzten zehn Jahren stillgelegten kommerziellen Anlagen zwischen 12 und 31 Kalenderjahren. Es handelt sich um 24 AKWs mit einer Leistung von über 17.000 Mega-Watt.

Da aber in Deutschland – anders als in anderen Industrieländern – die Betreiber über unbefristete Betriebsgenehmigungen verfügen, verlangt die Atomindustrie möglichst lange Laufzeiten der AKWs und pocht auf das heilige Gut der Besitzstandswahrung. Die Großfeuerungsanlagenverordnung von 1983 zeigt aber, dass unbefristete Betriebsgenehmigungen auch in Deutschland nachträglich befristet werden können. Und das Bundesverfassungsgericht hat diesen Eingriff in die Bestandsrechte der Stromindustrie als verfassungskonform befunden.

Eine Zeit lang kursierte das Gerücht, Bundeskanzler Gerhard Schröder habe in einem Privatissimum mit den Spitzen der Atomindustrie Restlaufzeiten von 20 Jahren zugestanden. Im Juni erfolgte aber ein Dementi. Nun soll eine Arbeitsgruppe zunächst auf Staatssekretärsebene bis Ende September alle rechtlichen Fragen eines Atomausstiegs klären, unter anderem, ob eine gesetzliche Befristung der Laufzeiten für AKW verfassungsrechtlich möglich ist.

Jede Anlage hat jedoch ein anderes Alter. Zwanzig Jahre und länger sind neun AKWs in Betrieb. Diese Blöcke werden von RWE, PreussenElektra, Energie Baden-Württemberg, Bayernwerk und HEW betrieben. Außer dem AKW Mülheim-Kärlich, das wegen fehlender erster Teilerrichtungsgenehmigung seit 1988 nicht in Betrieb ist, gibt es noch sieben Blöcke, die zwischen 13 und 18 Jahren in Betrieb sind. Lediglich drei AKW-Blöcke sind erst 10 bis 11 Jahre am Netz.

Alle AKWs der ersten Gruppe könnten schon aus Altersgründen innerhalb der laufenden Legislaturperiode vom Netz genommen werden. Zu entsprechenden Entscheidungen kamen RWE und Bayernwerk beim AKW-Block Gundremmingen A (Betriebsdauer 14 Jahre) und beim VAK Kahl (Betriebsdauer 24 Jahre) bzw. PreussenElektra beim AKW Würgassen (Betriebsdauer 23 Jahre) – ganz ohne den Druck von Konsensgesprächen.

Was wird der komplette Ausstieg kosten?

Über die Rückstellungen für die nukleare Entsorgung gibt es seit Beginn der Energiekonsensgespräche zwischen Bundesregierung und der Atomindustrie Streit. Eine Einigung darüber gilt als wesentliche Voraussetzung für einen Ausstieg aus der Atomenergie im Konsens mit der Strombranche.

Nach den Vorstellungen der Industrie sollte ab dem Jahr 2030 mit der Einlagerung in das Endlager begonnen und diese dann innerhalb von 50 Jahren abgeschlossen werden. Die Auffahrung des Endlagers kostet rund vier Milliarden Mark. Die jährlichen Betriebskosten belaufen sich auf etwa 80 Millionen. Für den Abbau sämtlicher AKWs kommen weitere 24 Milliarden hinzu, so dass die Gesamtkosten für den Ausstieg und Abbau mit rund 32 Milliarden Mark veranschlagt werden können.

Die bereits angehäuften Rückstellungen für diesen Zweck sind jedoch wesentlich höher. Bis Anfang 1999 hat die Vorsorgeverpflichtung der Atomindustrie zu Rückstellungen für die Atommüllentsorgung in der Höhe von 72 Milliaden geführt. Normalerweise müssen Gewinne und Erträge von Kapitalgesellschaften mit 50 Prozent versteuert werden. Rückstellungen dagegen sind steuerfrei. Das heißt, dem Staat sind bisher Steuereinnahmen von etwa 36 Milliarden Mark entgangen.

HEW-Chef Timm kommentierte Anfang März in einem Rundfunkinterview das Auflösen der über Jahrzehnte zu hoch angesetzten Rückstellungen so: „Man kann doch nicht unsere Konten plündern, mit denen wir Vorsorge für die spätere Entsorgung getroffen haben – das sind ja keine Gewinne oder Rücklagen, das sind ja Rückstellungen.“ Der Branchenverband der Stromwirtschaft, die Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW), verriet dagegen, was tatsächlich stattfindet: „Die Rückstellungsmittel werden von den Unternehmen sicher und rentabel angelegt.“ Das heißt: Mit dieser Kriegskasse hat die Atomindustrie ganze Industrieimperien aufgekauft und ist in neue Geschäftsfelder wie Telekommunikation, Abfall und Logistik eingestiegen.

Angenommen, die AKWs dürften weitere 30 Jahre betrieben werden, würde dies nicht nur zu weiteren Steuerminderungen führen, sondern die Rückstellungen könnten sogar auf über 500 Milliarden Mark anwachsen. Bei einer unterstellten Verzinsung von sieben Prozent würden sie sich in dreißig Jahren verachtfachen. Aber auch bei einem Sofortausstieg müssten die Entsorgungskosten erst nach rund 60 Jahren in vollem Umfang geleistet werden.

Bei dieser Profitaussicht ist klar, warum die Atomindustrie auf lange Restlaufzeiten drängt.

Hat die Regierung ihre Hausaufgaben gemacht?

Der Einstieg in eine andere Energiepolitik bedeutet langfristig den massiven Einstieg in die Nutzung erneuerbarer Energieträger – und zwar von derzeit 2 auf 50 Prozent des Primärenergieverbrauchs im Jahr 2050. Primärenergie bedeutet dabei nicht nur Strom-, sondern jeglichen Energieverbrauch. Der Energiebedarf für die Elektrizitätsversorgung macht in den Industrieländern etwa ein Drittel aus.

Bis 2010 soll der Anteil auf 4 bis 5 Prozent angehoben werden. Mit jährlich 200 Millionen Mark will die Bundesregierung die Regenerativen mit einem Marktanreizprogramm fördern. Zur Senkung der Stromnachfrage müsste die Energiepolitik aber vordringlich auf Techniken wie Energieeinsparung und Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) setzen, bei der die Abwärme der Turbinen zum Heizen benutzt wird. In Deutschland wird derzeit nur zehn Prozent des Stroms in KWK-Anlagen erzeugt. In Dänemark und den Niederlanden, aber auch in Finnland und in Österreich liegt der KWK-Stromanteil zwischen 25 und 50 Prozent.

Der bisherige Verlauf der Energiekonsensgespräche leidet darunter, dass nur eine verkürzte Diskussion über finanzielle Probleme des Atomausstiegs stattfindet. Dabei kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bundesregierung vor Aufnahme der Gespräche ihre Hausaufgaben nur mäßig gemacht hat. Die Einlassungen der energiepolitischen Meinungsführer aus Regierung und der sie tragenden Parteien wirken mit allzu heißer Nadel gestrickt. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch eine recht boshafte Berichterstattung der Massenmedien. Eine Reihe von Journalisten sitzt offenbar der Public-Relations-Strategie der Atomindustrie auf, anstatt durch eigene Recherchen zu glänzen.

Im Vergleich zu den Betreibern von Atomkraftwerken in anderen führenden Industrieländern (USA, Japan, Kanada, Frankreich, Großbritannien, Schweden oder der Schweiz) hat die deutsche Atomindustrie in der Vergangenheit von einer äußerst industriefreundlichen Haltung des Staates profitiert. In keinem anderen Land existieren unbefristete Betriebsgenehmigungen, ist es der Betreiberseite erlaubt, Rückstellungen in Milliardenhöhe am Fiskus vorbeizuschleusen und ist die teure Endlagerung von Atommüll auf die Steuerzahler abwälzbar.

Es bleibt also abzuwarten, ob es der Bundesregierung im weiteren Verlauf der Ausstiegsdiskussion gelingt, die Öffentlichkeit über diese Vorteilsnahmen der AKW-Betreiber aufzuklären und proaktiv eine Energiewende in Deutschland durchzusetzen.

Lutz Mez ist Geschäftsführer der Forschungsstelle für Umweltpolitik an der FU Berlin