Rückschlag im Homeland des Atoms

taz-Serie zum Konsens: jeden Tag ein guter Grund für den Ausstieg. Für US-Investoren sind AKWs zu teuer, zu unflexibel und zu gefährlich  ■   Aus Washington Peter Tautfest

„Die Atomkraft geht einem historischen Meltdown entgegen“, analysiert der Energieexperte Nicholas Lenssen in einer Studie anlässlich des 20. Jahrestags der Three-Mile-Island-Katastrophe des Jahres 1979. Entsinnt sich noch jemand an die Projektionen für den Stromverbrauch, die Mitte der 70er Jahre als Begründung für den Ausbau von Atomkraftwerken herhalten mussten? Die amerikanische Atomenergiebehörde sagte 1974 ein dramatisches Anwachsen des Weltenergiebedarfs voraus, dem nur mit Kernkraftwerken beizukommen sei. Deren Leistung sollte bis zur Jahrtausendwende auf viereinhalb Millionen Megawatt steigen. Tatsächlich beläuft sich die weltweite Kapazität der Kernkraftwerke heute auf weniger als ein Zehntel davon, nämlich auf gut 343.000 Megawatt.

In den 70er Jahren wuchs die Kernkraft in der Tat dramatisch, und zwar um 700 Prozent, und in den 80ern um immerhin noch achtbare 140 Prozent. In den 90ern hingegen blieb das 5-prozentige Wachstum der Kernenergie hinter dem von Öl und sogar von Kohle zurück. Nach Auffassung des amerikanischen Energieministeriums wird die weltweite Kapazität für Kernenergie in den nächsten zwei Jahrzehnten um die Hälfte fallen.

Das ist auch im Mutterland der Atomkraft so, den USA. Sicherheitsbedenken und vor allem die Deregulierung der Energiemärkte führen zu dieser Entwicklung. Das Problem der Kernenergie sind nicht in erster Linie die laufenden, sondern die hohen Kosten für den Bau der Kraftwerke. Legt man die Preise für die letzten 20 in Amerika errichteten Atomkraftwerke zu Grunde, dann liegen die Baukosten für einen Reaktor heute zwischen drei und vier Milliarden Dollar – oder umgerechnet bei 3.000 bis 4.000 Dollar pro Kilowatt Leistung.

Gasgefeuerte Kraftwerke kommen bei Verwendung modernster Jet-Engine-Technologie auf 400 bis 600 Dollar, und selbst Windkraftwerke zu bauen kostet heute nur 1.000 Dollar pro Kilowatt.

Seit dem Reaktorunfall von Three Mile Island ist in Amerika kein neues Kernkraftwerk mehr gebaut worden – nur die im Bau befindlichen Meiler wurden noch fertiggestellt. Dafür sind seit 1996 in den USA sechs AKWs und in Kanada sieben der 21 Reaktoren stillgelegt worden. Nach Auffassung von Wall-Street-Experten und der Industrievereinigung „Washington International Energy Group“ droht einem Drittel der amerikanischen Kraftwerke in den nächsten fünf Jahren die Schließung durch hohe Reparatur- und Wartungskosten.

Nach einem im August veröffentlichten Bericht des Critical Mass Energy Projects in Washington, einer Bürgergruppe, die Atomkraftwerke überwacht, werden 102 von Amerikas noch funktionierenden 111 Atomkraftwerken unter Verstoß der Sicherheitsauflagen ihrer 1996 ausgestellten Genehmigungen betrieben. Dabei kam es zu 500 Störfällen.

Nicht verwunderlich also, dass amerikanische Atomkraftwerke zur Zeit zum Verkauf angeboten werden. Lohnen tut sich das Geschäft mit dem Atomstrom nämlich nur, wenn man einen ganzen Stall voller Kraftwerke hat, deren Gestehungskosten man nicht zu tragen brauchte. Dann kann man Strom zum wettbewerbsfähigen Preis von etwa zwei Cent pro Kilowattstunde anbieten. Der Preis, zu dem die Kraftwerke zur Zeit die Hände wechseln, spricht Bände über die Zukunft der Industrie. Die Pilgrim-Anlage in Massachusetts wurde für 80 Mio. Dollar verkauft – 67 Millionen machte allein der Wert des Brennstoffs aus.

„Atomkraftwerke werden für den Wert ihres Schrotts verkauft“, sagt dazu Chris Flavin vom World Watch Institut, das im Frühjahr eine Studie über den Niedergang der Atomenergie vorlegte. „Finden Sie mal jemanden, der heute in Amerika den Bau eines Atomkraftwerks in Auftrag gibt.“

Letztes Jahr wurde mit Westinghouse Nuclear der größte Kernenergieerzeuger der Welt verkauft und erzielte auf dem Markt einen Preis von 1,2 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Der Wert von Exxon wird auf über 170 Milliarden geschätzt, und der von Microsoft bewegt sich an der Börse inzwischen um die 500 Milliarden Dollar.