Kaffee und Kuchen bei Kempowski

„Um Gottes Willen, nichts wegwerfen!“ Sein Haus steht in Nartum bei Gysum bei Bockel. Seminare gibt er dort keine mehr. Dafür pflegt er sein gigantisches Archiv: Ein Besuch bei Walter Kempowski  ■   Von Falko Hennig

Fahrt von Berlin, keine Staus. Ella muss mal, an einem Parkplatz halte ich sie falsch ab und etwas Pipi geht mir auf Hose und Schuh. Wir nehmen kleinen Imbiss und müssen lachen, als ich Heidi erkläre, was Kempowski dann denken muss, wenn es noch zu riechen ist: „Ja, da war mal dieser junge Mann. Alles gut und nett, aber dieser Geruch, woran hat mich der nur erinnert ...“ Reinbek Mittagessen, dann allein ohne Familie weiter Richtung Bremen, Ausfahrt Bockel hatte Walter Kempowski geschrieben, und „... vielleicht habe ich mehr Zeit, als Ihnen lieb ist.“ 15 Uhr ist verabredet, großzügig plus minus eine halbe Stunde. Kuchen kaufen in einer Kleinstadt zehn Kilometer weiter, 14.30 Uhr macht die Bäckerei auf. Erdbeer und Apfel mit Decke, 7,50 Mark.

Nartum gehört zu Gysum bei Bockel. Im Dorf zwei Jungs, ich frage sie und zeige ihnen die Postkarte: „Wisst ihr, wo dieses Haus ist?“ Sie wissen es nicht, von wem soll denn das sein? Kempowski, klar, ob sie ins Auto steigen dürften? Sie weisen mir den Weg. Ich sei nett, sagt der eine. „Wieso?“, frage ich. „Das sagen wir zu jedem.“ „Genau“, fügt der zweite hinzu. Sie zeigen mir das Haus und steigen aus.

Ich gehe auf das Anwesen zu, werde von Walter Kempowski begrüßt. Kempowski führt mich durch das weitläufige Haus: „So leben Dichters.“ Große Zimmer, Teppiche, Bilder, alte Möbel mit viel Luft dazwischen. Dann ein ewig langer Flur mit Bücherregalen. Durch noch einen Raum, Kaffeetisch im Freien, Geschirr mit Zwiebelmuster und ein Hedwig-Bollhagen-Kännchen. Ausblick auf Blumenbeete und eine Wiese mit Pavillon. Ein Pärchen gesellt sich dazu. Er ist Germanist und quasi Angestellter Kempowskis. Sie ist irgend etwas Ähnliches. Dann Beisammensitzen, Frau Kempowski kommt auch noch. Kempowski würde auch noch für Ende 50 durchgehen, ist aber gerade 70 geworden. Sicher, das Haar dünner und grauer als auf den Fotos. Er trägt einen Strohhut. Er wäre ein alter Mann, sagt er, und etwas schwerhörig. Jedenfalls scheint das mit den Schlaganfällen nicht zu stimmen, was mir ein Freund erzählt hatte.

Der Hund sieht aus wie die Karikatur eines Bessett, braun, aufrechtstehende gigantische Ohren, und ein dicker Leib auf zu kurzen krummen Beinen. Ob das eine Rasse wäre, will ich wissen. Ja, erfahre ich, Corgie, die englische Königin habe auch solche. Eine Schwesterrasse, sagt Frau Kempowski. Walter Kempowski hat eine angenehme, etwas altmodische Freundlichkeit, mit viel „Mein Herr“ darin, selbst mit seinem angestellten Germanisten ist er per „Sie“. Mit dem Motorrad durch Russland müsste ich fahren, sagt Kempowski, da hätte ich doch was aufzuschreiben! Und ich könne doch auch russisch. Bloß keine Lyrik, das liest doch keiner! Obwohl er da einmal etwas ganz Tolles geschickt bekommen habe, er holt es gleich. Ebeling heißt der Autor, es sind kleine Spielchen mit Wortklängen. Den habe er fördern wollen, sagt Kempowski, aber es funktionierte einfach nicht.

Er gibt keine Seminare mehr, wegen der Nerven. Nicht weil sie schwatzen, nur so viele Leute. Dann ruft einer an und sagt, er ist am Bahnhof. Dabei sollte er erst morgen kommen. Und dann kommt der nicht und der nicht. Kempowski zählt Dichter und Autoren auf, die nicht gekommen sind, oder am falschen Tag. Ein anderer hat sich aufgehängt im Wald.

Walter Kempowski tunkt etwas von dem Kuchen in den Kaffee, genüsslich sagt man wohl. Im Hotel wäre neulich Armin Müller-Stahl gewesen, sie hätten sich zugenickt. Müller-Stahl sei gerade interviewt worden. Dann in einem Antiquitätengeschäft Manfred Krug getroffen, der hätte gefragt, ob Kempowskis Begleiter, der Germanistikstudent, sein Leibwächter sei. Andere Leute hätten nicht schlecht gestaunt, dass sich dort zwei Prominente einfach unterhielten. Ich erzähle das Erlebnis, vielleicht ein Beispiel für Viertel- oder noch weniger Prominenz, wie ich in einer Kneipe einen Titanic-Redakteur erkannte. Ich hatte damals schon einen ewigen Briefwechsel mit einem, ich frage ihn: „Olaf Schmitt?“ Er sah mich an, ich schien ihm auch bekannt vorzukommen, er fragte zurück: „Ahne“? Wir waren es aber beide nicht. Und Armin Müller-Stahl, das war doch der Vorgesetzte meines Vaters in der Hitlerjugend gewesen, damals in Prenzlau. Ist jemals was von Kempowski in der DDR erschienen? Nein, nie, sagt er. Ein paarmal besucht, ja. Einmal auf der Transitstrecke, ein sicher belastendes Manuskript im Auto, da wäre er falsch abgefahren kurz vor Dreilinden. Da hätten Polizisten Staatsbesuch geübt. Zehn Motorräder fuhren hinter einem Trabbi hier. Einer gleich auf ihn zu: Was machen Sie hier? Ein anderer, freundlicherer: Fahren Sie mal da lang zurück! Wenn die ihn durchsucht hätten und das Manuskript im Kofferraum gefunden! Übersetzt? Ja, Japan ist dabei. Da hätten sie so ein komisches Foto genommen.

Kempowski versucht irgendwas Rattenzahnartiges nachzuahmen, vielleicht bearbeitet, dieses Foto. Bukowski? Er hat mal seinem Sohn einen englischen Gedichtband geschenkt. Was?, wurde der gefragt, dein Vater schenkt dir Bukowski? Sie wären da liberal. Ich sage, dass ich in Japan für 400 Mark Bukowski-Bücher gekauft hätte, neulich einen Stapel lettische Bukowski-Stories auf den Tisch bekommen, natürlich verstehe ich kein Wort. Ja, sagt er, wenn schon 'ne Macke, dann richtig. Wo ich die Bronzebüste herhätte, er habe eine von Tolstoi.

Wenn ich Bukowski möge, dann müsste ich doch auch Céline leiden können? Und Arno Schmidt? Ich muss verneinen. Kempowski sagt: Bei Céline, Bukowski und Arno Schmidt, da sind die meisten gelandet, die mit der Gruppe 47 nichts anfangen konnten, mit Böll und Grass und so. Einen Historiker habe er mal nach seinem Spezialgebiet gefragt. Und der hatte keins! Nicht mal Briefmarkensammeln! Jeder Dorfschullehrer hat was gesammelt oder fotografiert. Und der, nichts!

Ich frage nach der Postkarte mit farbiger Ansicht des Anwesens hier, samt Literatenturm, mit der Kempowski mich auf meine Anfrage ob eines Kaffeebesuches so freundlich eingeladen hatte. Ja, als hier noch die Seminare waren. 1.000 Stück für 80 Mark machen lassen, dann verkaufen an die Studenten, war es eine Mark das Stück? Man war noch pfiffiger damals. Mein nächstes Projekt, fast fürchte ich mich lächerlich zu machen mit einem Roman, in dem es nur um Autos geht. Doch die Kaffeegesellschaft ist interessiert, ob ich was bei habe. Kempowski meint, Autoren hätten immer was bei, ob ich was vorlesen könnte. Ich kann es nicht richtig glauben, halte es erst für einen Scherz. Doch es ist ernst, ich hole den Laptop raus und schalte ihn ein. Die Datei muss erst noch konvertiert werden. Dann lese ich das Kapitel über die Erfindung des Rades und das über Autozubehör. Man äußert sich nett, ich erkläre, wie toll ein Laptop ist, man kann alles von den Zetteln abschreiben und die dann wegwerfen.

„Um Gottes Willen, nicht wegwerfen!“, sagt Kempowski, „alles aufheben!“ Ich versuche zu erklären, dass das nicht geht wegen des Platzes. Die Anfrage von Bov Bjerg wegen einer Lesung in Berlin hat er erhalten, eigentlich gern, sie haben auch eine Wohnung in Berlin. Ich erzähle, dass Gabriele Goettle wohl grundsätzlich nicht vorliest.

„Eine Autorin, die nicht vorliest?“, fragt Kempowski, „dann kann sie es wohl nicht?“ Er hätte mal eine gekannt, die hätte so gesächselt. Ich sage, Sächsisch ist doch angenehm zu hören. Ja, aber bei Lyrik. Schwäbisch ginge ja noch. Prenzlauer Berg wohne ich, da gäbe es doch sicher Antiquariate. Ob ich ihnen was zeigen könnte. Natürlich sage ich, im Zehn-Minuten-Abstand von mir fallen mir fünf Antiquariate ein. Prenzlauer Berg, Anderson, lebe der denn noch? Schlimme Sache das, da wären doch Leute ins Gefängnis gekommen wegen dem. Im Knast, da hätte ihn selber auch jemand verpfiffen. Über Weihnachten acht Tage Einzelhaft. Die Anschuldigungen völlig frei erfunden, dass er die Kinder des Wachpersonals an der Wand zerschmettern wolle.

Das erste Manuskript dem Pfarrer gegeben, nicht gewusst, dass der ein Bruder des Rowohlt-Verlegers gewesen war. Wem soll man ein Manuskript geben? Dem Seelsorger. Dann kam Fritz Raddatz mit seinem weißen Porsche zu seinem Lehrerhaus, von Rowohlt. Aber „Tadelloeser und Wolff“ dann abgelehnt. Ihr Pech.

Kempowski führt mich ins Archiv im Obergeschoss, es ist gigantisch, alle Medien sind vertreten, Bücher, Briefe, Fotoalben, Kassetten, Videokassetten. Drei, vier Räume voll. Die Korrekturfahnen für die nächste „Echolot“-Ausgabe. Von der alten haben sie 10.000 Stück verkauft. Moderne Macintosh-Computer mit großen Bildschirmen.

Sogar eine eigene kleine Wohnung hat Kempowski hier oben, samt Bad, Arbeits- und Schlafzimmer. Im Arbeitszimmer verschiedene Grafiken und Bilder aus Zeitungen an den Wänden. Lenin kurz vor dem Tod, ein Tiefseefisch, Bismarck auf dem Totenbett. Ich erzähle von meiner Materialsammlung zu Totenmasken und Leichenbildern „Das letzte Bild“. Eine gute Idee, meint er, Heiner Müller, da sei doch jetzt ein Buch herausgekommen.

Gefängnisbriefe, erklärt er am Computer, diese Musik ist an demselben Tag komponiert worden, er klickt sie an. Bruckner, gewöhnungsbedürftig. Dann ein Filmausschnitt, wieder Musik, Briefe von Tschechow, Tagebuch von Brigitte Reimann, von ihm selber. Und Jazzmusik, am selben Tag aufgenommen. Tagebücher aus Belgrad, werden abgedruckt im Spiegel. In zehn Jahren, sagt Kempowski, wundern die sich, wo ich so was herhabe. Ein neues Multimediaprojekt, mal sehen, ob die Firma es haben will. Dann doch, er könne sich nicht mehr so konzentrieren seit seinem Schlaganfall.

Ich soll noch was in ein Büchlein, eine Art Poesiealbum malen. Versuche wieder meine schielende Katze mit dem Alkoholproblem. Bin nicht zufrieden, da hatte ich schon schönere. Loki Schmidt, von Helmut Schmidt die Frau, die wäre auch schon drin, sagt Kempowski. Nein, sie hätten nicht soviel gefeiert zum 70. Sicher, die Kinder waren gekommen. Die Tochter aus Amerika, der Sohn wohnt in Berlin.

Es ist 17 Uhr, als ich begleitet vom Hausherrn zum Auto gehe. Die Frau telefoniert schon wieder. Ich habe den Eindruck eines gut funktionierenden mittelständischen Betriebes, in dem der freundliche Chef der alten Schule noch mit seinen Angestellten Kaffee trinkt. Hoffentlich bin ich nicht zu lange geblieben. Ja, so wars.

Falko Hennig ist Autor und Schauredner. Soeben ist sein Buch „Alles nur geklaut“ erschienen. Maro Verlag, 250 Seiten, 28 DM Walter Kempowski liest heute Abend ab 19.30 Uhr aus „Das neue Echolot – Fuga furiosa“. Im DGB-Haus, Keithstraße 1 – 3, Tiergarten