Technischer Staatsstreich in Venezuela

■ Die Verfassunggebende Versammlung hat auf Geheiß von Präsident Hugo Chávez das Parlament entmachtet. Der Staatschef selbst hat die neue Verfassung entworfen

San Salvador (taz) – Jetzt ist es also passiert: Hugo Chávez, Präsident von Venezuela, regiert seit dem späten Montagabend ohne parlamentarische Kontrolle. Die von seinen Anhängern dominierte Verfassunggebende Versammlung bestätigte ein von ihr selbst erlassenes Dekret, das dem Kongress weitere Sitzungen verbietet. Alle Funktionen des Parlaments gehen damit an die Verfassunggebende Versammlung über. Ein Putsch, wie ihn Alberto Fujimori 1992 in Peru vorgemacht hatte. Allerdings musste Fujimori damals noch Panzer vors Parlament schicken. Chávez genügten ein paar mit Baseballschlägern und Eisenstangen bewaffnete Gefolgsleute, um einen seit Anfang August schwelenden Machtkonflikt zwischen Kongress und Verfassunggebender Versammlung in seiner Richtung zu entscheiden. Der Anlass für die Entmachtung des Parlaments war reichlich banal: Chávez wollte am heutigen 1. September an den Feierlichkeiten zum Amtsantritt der panamaischen Präsidentin Mireya Moscoso teilnehmen. Um als Präsident Venezuela verlassen zu dürfen, braucht er die Genehmigung des Kongresses. Der geschäftsführende Ausschuss des Parlaments aber verweigerte diese Genehmigung.

Das war nur eine kleine Rache dafür, dass die Verfassunggebende Versammlung auf Geheiß von Chávez in der vergangenen Woche den „parlamentarischen Notstand“ ausgerufen und dem Kongress alle wesentlichen Funktionen entzogen hatte. Nur Nebensächliches wie eben die Genehmigung von präsidialen Auslandsreisen waren als Aufgaben übrig geblieben. Das hatten die Abgeordneten nicht hinnehmen wollen.

Doch eine Dringlichkeitssitzung des Kongresses zu diesem Thema war am vergangenen Freitag von Polizei, Nationalgarde und schlägernden Chávez-Anhängern verhindert worden. Als die Parlamentarier kamen, war das Parlamentsgebäude von Sicherheitskräften abgeriegelt. Als einzelne Abgeordnete über den Palisadenzaun kletterten, um in den Sitzungssaal zu gelangen, schlug der Chávez-Mob mit Baseballschlägern und Eisenstangen zu. Auch die Parlamentarier hatten ihr Fußvolk dabei. Zweimal kam es im Verlauf des Tages dort zu Schlägereien.

Jetzt hat sich die Verfassunggebende Versammlung angemaßt, dem Parlament auch noch die letzten Kompetenzen zu nehmen. „Rein technisch gesehen ist der Kongress tot“, sagte der Generalsekretär der sozialdemokratischen „Acción Democrática“ (AD). „Wir stehen vor einer Diktatur.“ Henrique Capriles, Vizepräsident des Parlaments für die christsoziale Copei-Partei, beantragte beim Verfassungsgericht, dass das Dekret der Verfassunggebenden Versammlung für nichtig erklärt werde.

Der Antrag wird keinen Erfolg haben. Denn das Verfassungsgericht existiert schon seit über einer Woche nicht mehr. Bevor die Verfassunggebende Versammlung den „parlamentarischen Notstand“ ausgerufen hatte, war schon der „juristische Notstand“ erklärt worden. Dem Höchsten Gericht des Landes war ein Kontrollgremium vor die Nase gesetzt worden. Gerichtspräsidentin Cecilia Sosa hatte daraufhin ihren Rücktritt erklärt, der Rest der Höchsten Richter hatte sich auf unbestimmte Zeit in den Urlaub begeben.

Der technische Staatsstreich war abzusehen, seit Chávez im Februar das Präsidentenamt angetreten hatte. Er hatte nie Zweifel daran gelassen, dass er nun als gewählter Präsident zu tun gedenke, was er als Fallschirmspringer-Oberst 1992 bei einem misslungenen blutigen Putschversuch nicht erreicht hatte: den Staat nach seinem Willen umzukrempeln. Parlament und Verfassungsgericht waren ihm dabei im Weg. Der Kongress war im November vergangenen Jahres gewählt worden, als der Stern von Chávez erst aufging. Dessen „Patriotischer Pol“, eine Sammelbewegung aus Nationalisten, Militärs und ehemaligen Linken, hat deshalb im Parlament nur eine Minderheit inne.

Weil von diesem Kongress die von Chávez gewünschte neue Verfassung nicht zu erwarten war, ließ der Präsident am 25. Juli eine Verfassunggebende Versammlung wählen. 120 der 131 Sitze werden dort von seinen Leuten kontrolliert. Zwar hat das Verfassungsgericht die Aufgaben dieses Gremiums auf die Redaktion einer neuen Magna Charta beschränkt. Doch diese Arbeit ist gar nicht nötig: Chávez hat seine Verfassung längst geschrieben und reicht nun ein Kapitel nach dem anderen an seine Versammlung weiter.

Toni Keppeler