Neunzehn Jahre danach: Ustica kommt vor Gericht

■ 1980 fiel bei Italien ein Flugzeug mit 81 Menschen ins Meer – vermutlich abgeschossen. Nach Jahren der Verschleierung werden nun erstmals neun italienische Militärs angeklagt

Rom (taz) – Gut Ding will Weile haben – in Italien zumal. Fast zwanzig Jahre hat es gedauert, bis nun endlich wenigstens zu Teilen Licht in eines der schlimmsten Desaster der 80er Jahre kommen soll – das Verschwinden einer DC-9-Passagiermaschine der Fluggesellschaft Itavia nahe der Mittelmeerinsel Ustica im Jahre 1980.

Der italienische Untersuchungsrichter Rosario Priore, 66, hat nun wegen des Falles Ustica Anklage gegen vier Generäle und fünf weitere Offiziere wegen Hochverrats und Angriffs auf Verfassungsorgane erhoben. Sie sollen mehr als ein Jahrzehnt die Wahrheit über den Absturz verschleiert und die Stellen, denen sie auskunftspflichtig sind, systematisch belogen haben.

Am 27. Juni 1980 gegen 21 Uhr verschwand die mit 81 Personen besetzte Maschine südlich von Neapel von den Radarschirmen. Nur wenige Stunden danach wurde eine „offizielle“ Version gestreut, wonach das 20 Jahre alte Flugzeug wegen „Materialermüdung“ ins Mittelmeer gestürzt sei. Wiederum wenige Stunden später gab es aber einen „Bekenneranruf“, wonach eine Bombe an Bord explodiert sei, die einem bekannten Rechtsextremisten gegolten habe – doch der war gar nicht an Bord gewesen.

Der Absturz geriet durch nachfolgende Ereignisse – wie das Attentat in Bologna von 1982 mit 85 Toten – langsam in Vergessenheit. Im Herbst 1982 widmete die britische BBC dem „Fall Ustica“ einen Beitrag. Darin wurde die These vertreten, ein libyscher Dissident sei am fraglichen Tag mit einem MiG-23-Jäger aus seinem Land geflohen und die ihn verfolgenden Maschinen hätten statt seiner versehentlich die DC 9 abgeschossen.

Tatsächlich hatte man etwa drei Wochen nach dem Absturz der Itavia-Maschine eine MiG 23 im unteritalienischen Sila-Gebirge gefunden und die Absturzzeit mal auf den 18. Juli, mal aber auch auf den Tag des DC-9-Unglücks gelegt. Im Gefolge des Beitrags kamen jedoch Verdachte auf, auch US-amerikanische und französische Militärmaschinen hätten im fraglichen Gebiet operiert.

Die Angehörigen der Opfer bildeten ein Komitee und forderten eine Neuaufnahme des Falles. 1986 stellte die Regierung dann auf öffentlichen Druck hin Gelder für die Bergung des 3.000 Meter tief liegenden Wracks bereit.

Doch was als Wahrheitsfindung gedacht war, entwickelte eine geradezu bösartige Eigendynamik. Mit der Bergung beauftragt wurde eine französische Firma, die eng mit den dortigen Geheimdiensten verbunden ist und deren Arbeit sich als höchst unseriös erwies; das Militär und die Geheimdienste fälschten geradezu serienweise Dokumente zum Beweis, „alle Flugzeuge“ seien „in den Hangars, alle Raketen in den Depots“; die US-Navy behauptete – wahrheitswidrig –, ihr Flugzeugträger „Saratoga“ habe zur Unglückszeit vor Neapel gelegen und alle Radargeräte abgeschaltet gehabt.

Und gut ein Dutzend während der Unglücksnacht diensthabender Offiziere fand einen gewaltsamen Tod. Ein Radarlotse wurde erhängt aufgefunden, ein für die Bergung der MiG 23 eingesetzter Feldwebel wurde totgefahren, zwei italienische Piloten, die am Unglücksabend einem im Radarschatten der DC 9 verborgenen Atombomber nachgeflogen waren, kamen bei dem bis heute nicht wirklich aufgeklärten Zusammenstoß der Kunstflugstaffel „Frecce tricolori“ in Ramstein am 28. August 1988 ums Leben.

Erst als Untersuchungsrichter Priore den Fall übernahm, brach das Lügengebäude stückweise zusammen. Doch welches die Wahrheit ist, hat auch er nicht herausfinden können. Sicher ist: An jenem Abend tummelten sich mehr als zwei Dutzend Kampfflugzeuge im Unglücksgebiet, und man erwartete, dass der libysche Staatschef Gaddafi in diese Zone einfliegen würde, zur Teilnahme an einem Gipfeltreffen in Warschau.

Als wahrscheinlichstes Szenarium gilt Experten daher, dass man versuchen wollte, den von US-Präsident Ronald Reagan damals zum Oberteufel erklärten libyschen Oberst vom Himmel zu holen – vielleicht mit Hilfe der mit den libyschen Farben angemalten MiG 23, die von Italien aus gestartet sein muss – für Libyen genügt ihre Flugreichweite nicht.

„Es war ein regelrechtes Kriegsszenarium“, schreibt Priore in seiner Angklageschrift, „auch wenn nicht mehr genau festgestellt werden kann, welcher Nationalität all die Radarspuren zuzuordnen sind.“ Klar aber ist, so Priore, dass die italienischen Geheimdienste und das Militär jahrzehntelang hingebungsvoll die Wahrheit vertuscht haben – zugunsten des „großen Bruders“ USA oder der „welschen Vettern“ in Frankreich.

Priore hofft, dass die Offiziere, konfrontiert mit einer bis zu „lebenslang“ möglichen Strafe, doch noch sagen, was sie alles wissen. Die aber zucken nur die Schultern. In wenigen Monaten werden die ersten der ihnen zur Last gelegten Vergehen verjähren. Die Aussicht, dass es niemals ein Urteil gegen sie geben wird, stehen aus ihrer Sicht sehr, sehr gut.

Werner Raith