Von Panzern geschützte Natur

100 Jahre militärische Nutzung haben den Truppenübungsplatz „Senne“ schutzwürdig gemacht. Demnächst soll der Platz zum Nationalpark erklärt werden, eine Premiere für die alten Bundesländer    ■ Von Werner Paczian

Manchmal wechseln das Rattern von Gewehrsalven und klopfenden Spechten sich ab. In solchen Augenblicken scheint es, als hätten britische Armee und Natur auf dem „Truppenübungsplatz Sennelager“ ein Gentlemen's Agreement vereinbart: Wir lassen uns gegenseitig in Ruhe. Die Natur jedenfalls wirkt nicht sonderlich beeindruckt von der militärischen Nutzung. Mit alten, bodensauren Buchen- und Eichenmischwäldern wirkt sie urwüchsig. Heidelandschaften, Moore und Weiher sind artenreich. Durch die Auwälder ziehen sich Sand- und Tieflandbäche, die Lebensraum bieten für europaweit bedeutende Fischarten wie etwa die Groppe und das Bachneunauge. Habichte, Bussarde und Adler kreisen über dem „Truppenübungsplatz Sennelager“. Hier wachsen Arten, die auf der „Roten Liste“ der bedrohten Pflanzen stehen. Zudem ist die Senne auch noch das größte zusammenhängende Gebiet mit Binnendünen in Nordwestdeutschland.

„Das Sennelager ist einzigartig als Übungsplatz. Aus einem einfachen Grund“, sagt General Rod Brummit, der Platzkommandant. „Wir haben hier eine echte Landschaft, weil die Natur nicht zerstört wurde. Im Ergebnis können wir unter realistischen Bedingungen trainieren. Das allein ist schon Antrieb genug, das Gebiet so zu erhalten, wie es ist.“

Jahrhunderte war die „Senne“ eine vergessene Landschaft, eine Wüste in der Mitte Europas („desertum sinithi“), wie es in einer Urkunde aus dem 10. Jahrhundert heißt. Teilweise war sie zu trocken und sandig, teils zu feucht und moorig, insgesamt sehr nährstoffarm und damit siedlungsfeindlich. Nur wenige Menschen kamen und versuchten, dem Boden Erträge abzuringen. Erst wurden stellenweise die Wälder gerodet, dann folgte der „Plaggenhieb“, das Abschlagen von Zwergsträuchern, besonders von Heide, um sie statt des fehlenden Strohs in die Ställe einzustreuen. Später wanderten die Plaggen als Mist zurück auf die nährstoffarmen Sandböden. Das Abplaggen bei gleichzeitiger Beweidung mit Schafen ließ große Heideflächen entstehen. Wenn heute britische Panzer über das idyllische Terrain rollen, dann üben die Soldaten in einer Landschaft, die sogar im europäischen Maßstab von herausragender Bedeutung ist.

Und das nicht trotz der militärischen Nutzung, sondern genau deswegen. Der Truppenübungsplatz bedeckt etwa ein Drittel der Senne zwischen Bielefeld und Paderborn südwestlich vom Teutoburger Wald und besteht schon über 100 Jahre. Weil seitdem zivile Nutzung weitgehend verboten ist, blieb unter dem Kommando der Militärs der Natur erspart, was außerhalb der Sperrzone passierte: Zerschneidung, Besiedlung und intensive landwirtschaftliche Nutzung. Die britische Armee nutzt den Platz seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Heute sind dort 5.000 Männer und Frauen stationiert, noch einmal so viele britische Zivilisten leben auf dem Gelände. „Natürlich gehen die Übungen vor, aber wir erleben fast täglich, dass es nicht um Naturschutz oder Übung geht, sondern fast immer beide vereinbar sind“, sagt Rod Brummit. Die Anzahl seltener Tiere und Pflanzen, einmalig in NRW, gibt dem General Recht. Und wenn auch noch im Winter auf den ausgedehnten Flächen des Übungsplatzes 80 Kraniche rasten, ist das ein deutliches Zeichen, dass Panzer und Schießübungen die Natur kaum beeinträchtigen. Kraniche sind äußerst scheu und geräuschempfindlich. „Viele Arten, die sich hier wegen der Ruhe und der geschützten Rückzugsgebiete angesiedelt haben, würden verschwinden, wenn wir den Platz morgen öffnen müssten“, meint General Brummit. Irgendwann werden die Briten zurück auf die Insel gehen, ohne dass bisher ein Datum genannt wurde. Dann steht die „Senne“ vor einer doppelten Premiere: Erstmals soll in den alten Bundesländern ein ehemaliger Truppenübungsplatz in einen Nationalpark verwandelt werden, und erstmals würde Nordrhein-Westfalen ein Stück Natur erhalten, dem der höchstmögliche Schutzstatus verliehen würde. Ein entsprechender Beschluss des Landtages, dem alle Parteien zugestimmt haben, liegt vor. Damit würde nach dem Nationalpark Hainich in Thüringen, der im Dezember 1997 per Gesetz deklariert wurde, zum zweiten Mal in Deutschland ein ehemaliger Truppenübungsplatz in einen Nationalpark integriert. Im Fall Senne ginge es dabei um andere Dimensionen. Während es der „Hainich“ nur auf 7.600 Hektar Fläche bringt, soll sich der Nationalpark Senne über rund 36.000 Hektar erstrekken. Um auf den Tag X vorbereitet zu sein, basteln Mitarbeiter der „Biologischen Station Senne“ bereits an einem Nationalpark-Konzept. Peter Rüther ist dabei, und für ihn „muss es ein Nationalpark zum Anfassen werden, mit Bereichen, in denen Besucher behutsam die herausragende Artenvielfalt erleben können, ohne Tiere und Pflanzen zu stören“. Inzwischen haben die örtlichen Naturschützer einen wichtigen Partner gefunden. Claus-Peter Hutter, Präsident der Stiftung „Euronatur“, reiste mehrfach persönlich an, um die Erhaltung der Senne voranzutreiben. „Sie gehört zu den einmaligen Landschaften unseres Naturerbes. Deswegen haben wir sie in unser Projekt 'Ökologische Bausteine Europas‘ aufgenommen.“ Hutters erstes Etappenziel ist die Sicherung der Sennebereiche, die nicht im militärischen Sperrbezirk liegen. Die sind durch neue Baugebiete und große Freizeitparks bedroht, über die findige Unternehmer bereits laut nachdenken. Weniger Sorgen müssen sich Hutter und Rüther über die Natur auf dem Truppenübungsplatz machen. Hobbyornithologe Brummit kennt einen zweiten Grund, weshalb die Briten ihre Panzer sachte durch die Senneheide fahren: „Unsere jungen Soldaten begreifen sehr schnell, dass es besser ist, in einer gewachsenen Landschaft zu trainieren als in einer Wüste.“