■ Die provisorische Zukunft des Kosovo wird nicht durch Trennung, sondern durch das Bleiben einer serbischen Minderheit befördert. Dabei geht es nicht um den Traum einer multiethnischen Gesellschaft. Es geht um eine Aussicht auf Stabilität. Ein Ausblick Von Thomas Schmid: Von Opfern und Tätern im Kosovo
Da hat einer seinem Volk die Leviten gelesen: Die „organisierte und systematische Einschüchterung aller Serbinnen und Serben aus dem einzigen Grund, weil sie serbisch sind“, sei ein faschistisches Benehmen, und „die Bevölkerung des Kosovo hat sich genau gegen solches Benehmen die letzten zehn Jahre lang gewehrt und dagegen gekämpft, zuerst friedlich und dann mit Waffen.“ Schlussfolgerung: „Aus Opfern (...) wurden wir zu Tätern.“
Der Mann, der eine so deutliche Sprache spricht, heißt Veton Surroi, ist Verleger der größten kosovo-albanischen Zeitung, war Mitglied der Delegation bei den Verhandlungen von Rambouillet und ist heute als unabhängiger Intellektueller der Chef der UN-Mission im Kosovo im Übergangsrat. Viele Serben des Kosovo leben in Todesangst, und Veton Surroi weiß, was das bedeutet. Er selbst hat die drei Monate, während derer die Nato das Land bombardierte, in einem Versteck überlebt – immer in Angst, von serbischer Polizei oder Paramilitärs entdeckt und getötet zu werden. Man stelle sich vor, der weithin populäre UÇK-Chef Hashim Thaci fände ebenso deutliche Worte, würde so zu seinen Mannen sprechen, würde sich vor die verkohlten serbischen Häuser hinstellen und – wie Veton Surroi – öffentlich fragen: „Haben wir wirklich dafür gekämpft?“ Er tut es nicht.
Hat die UÇK für ein freies oder für ein ethnisch reines Kosovo gekämpft? Die Frage muss sie sich gefallen lassen. Die UÇK ist gewiss nicht eine „Bande von Hasardeuren, Terroristen, Mafiosi und der verlängerte Arm des albanischen Geheimdienstes“, wie Alice Schwarzer in ihrem neuesten Elaborat behauptet. Wer so redet, hat nichts verstanden.
Aber richtig ist: Die UÇK tut nichts gegen die Vertreibung der Serben, höchstwahrscheinlich einiges dafür. Lippenbekenntnisse zu einem multiethnischen Kosovo können darüber nicht hinwegtäuschen. Aus Opfern wurden Täter. Überraschen konnte das nur, wer die Albaner für die besseren Menschen hielt. Die Fähigkeit, zu töten, zu vergewaltigen, zu foltern ist unter den Völkern der Welt vermutlich etwa in gleichem Maß vorhanden.
Aber das ist kein Grund, alles allem gleichzusetzen. Es gibt Machtverhältnisse, die Verantwortung und Schuld verschieden verteilen. Oder wer wollte die Verbrechen der Nazis in Polen und der Tschechoslowakei mit dem der Vertreibung der deutschen Minderheiten nach dem Krieg gleichsetzen? Es besteht offenbar ein innerer Zusammenhang, auch wenn viele Schlesier und Sudetendeutsche dann doch nur den Knüppel der Kommunisten sahen und nicht seine Vorgeschichte.
Genauso sehen viele bedrohte und verängstigte Serben des Kosovo zunächst nur die brennenden serbischen Häuser und nicht den Zusammenhang mit der Repression, der die Albaner ein Jahrzehnt ausgesetzt waren. Die Optik des Opfers ist insofern immer verschieden von der des unbeteiligten Beobachters. Wenn Opfer zu Tätern werden, darf dies nicht den Blick für historische Schuld und Verantwortung trüben.
Zehn Jahre lang waren die Albaner des Kosovo entrechtet, gedemütigt und einer serbischen Willkürherrschaft ausgesetzt, die sich zuletzt mehrtausendfachen Mords und der Vertreibung hunderttausender Albaner schuldig gemacht hat. Die Verantwortung für solche Verbrechen ist unterschiedlich verteilt. Es gibt Miloševic, es gibt die materiellen Mörder, die vermutlich längst in Serbien sind, es gibt zehntausende Serben, die von der Entlassung der Albaner aus dem öffentlichen Dienst profitiert haben. Und es gibt noch mehr, die zugeschaut haben, wie die Albaner vertrieben wurden.
Es gibt wenige Serben, die heimlich bedrohten Albanern geholfen haben, es gibt Bruder Sava, den orthodoxen Mönch, der in seinem Kloster Decani 150 Albanern Zuflucht bot, als während der Nato-Bombardements die serbische Soldateska wütete. Doch es gab keine kosovo-serbische Stimme, die laut gegen die Verbrechen an den Albanern protestiert hätte.
So kann es nicht verwundern, dass viele Albaner heute von einer serbischen Kollektivschuld ausgehen, die eine Kollektivstrafe rechtfertige. Vieles macht diesen Wunsch verständlich, nichts aber kann eine solche Strafe rechtfertigen. Gerade deshalb kommt Veton Surrois gewiss nicht populärer Publikumsbeschimpfung solche Bedeutung zu. Da benennt einer die Verantwortung des eigenen Lagers – wie sehr hat man das auf serbischen Seite immer vermisst! – und hilft so, einer künftigen Kollektivschuld vorzubauen.
Zu spät, mag man einwenden, jetzt, wo von ursprünglich 200.000 Serben nur noch 30.000 im Kosovo leben. Für die ist es nicht zu spät; andere mögen zurückkehren, wenn ihre Sicherheit gewährleistet ist. Viele geflohene oder emigrierte Serben werden in einem „albanischen“ Kosovo nie leben wollen. Es geht nicht darum, irgendein Modell einer multiethnischen Gesellschaft zu verwirklichen, sondern viel banaler darum, das Recht der Menschen auf eine sichere Existenz in ihrer Heimat durchzusetzen – unabhängig von ihrer ethnischen, sprachlichen oder religiösen Zugehörigkeit.
Es geht nicht um ein abstraktes Modell, sondern um serbische Bauern, die Angst vor der Zukunft haben, um junge Albaner, die ein Jahr lang unter hohen persönlichen Risiken in den Wäldern und Bergen gelebt haben, um ein schreckliches Apartheid-Regime in die Knie zu zwingen und ein würdiges Leben zu führen, und die jetzt ihre Waffen abgeben müssen.
Zugegeben: Die Dynamik der Entwicklung läuft auf Trennung hinaus. Aber sie ist steuerbar. Sie ist auch vom Willen der Menschen abhängig. Wahrscheinlich entscheidet sich die Zukunft des Kosovo in Mitrovica und Orahovac, den beiden Städten, in denen noch eine größere serbische Minderheit lebt. Wird es dort gelingen, Sicherheit für alle Volksgruppen herzustellen? Man könnte die Trennung mit den tausendfachen Dramen, die sie für die vertriebenen und erst recht für die noch zu vertreibenden Familien bedeutet, vielleicht hinnehmen. Wenn sie denn eine Lösung wäre, die Aussicht auf Stabilität böte.
Doch dafür spricht wenig. Im Gegenteil: Ein serbenfreies Kosovo bietet dem serbischen Nationialismus, der von der Rückeroberung des Amselfeldes träumt, mehr Nahrung als ein Kosovo, in dem es Serben gibt, die in Sicherheit leben. Ideale Lösungen gibt es nicht, und befriedigende nun umso weniger, als der Westen Miloševic fast zehn Jahre lang hofiert hat. Man wird sich im Kosovo auf provisorische Lösungen einstellen und mit Leuten Kompromisse schließen, die Dreck am Stecken haben. Man wird, wenn sich die Linie Veton Surrois nicht durchsetzt, den Serben sicherheitshalber eigene Kantone zugestehen, die Anlass zu späterem Gebietstausch geben und Gelüste nach Anschluss ans Mutterland fördern könnten. Man muß sich verständigen mit Momcilo Trajkovic, dem politischen Führer der gemäßigten Kosovo-Serben, obwohl er einst zur Radikalisierung der Serben beigetragen hat, wie man, um Miloševic zu schwächen, auf den montenegrinischen Präsidenten Djukanovic setzte, der die Zerstörung der südkroatischen Küste mit zu verantworten hat.
Man wird auch auf Zoran Djindjic bauen müssen, den serbischen Oppositionsführer in Belgrad, der vor wenigen Jahren noch den bosnischen Kriegsverbrecher Radovan Karadžic hofiert hat. Hauptziel muss die Überwindung eines Machtsystems sein, das den Balkan in vier Kriege gestürzt hat. Nur wenn eine Demokratisierung Serbiens gelingt – Miloševic' Abgang ist hierfür eine notwendige, aber bei weitem nicht hinreichende Bedingung –, kann es fürs Kosovo eine politische Lösung von Dauer geben. Sie wird den verbliebenen und rückkehrwilligen Serben ihre Rechte einräumen müssen.
Doch gibt es keinen vernünftigen Grund, die Provinz unter serbischer Hoheit zu belassen. Zu viel ist in den letzten zehn Jahren und vor allem in den letzten 15 Monaten geschehen, als dass man den Albanern zumuten könnte, je wieder von Belgrad aus regiert zu werden. Mit der Zusage, die territoriale Integrität Jugoslawiens zu respektieren, hat sich die internationale Diplomatie möglicherweise die Zustimmung Miloševic' zum Rückzug seiner Truppen aus dem Kosovo erkauft, aber gleichzeitig selbst ein Bein gestellt.
Wie soll die Provinz wieder aufgebaut werden, wenn öffentliches Eigentum im serbischen Staatsbesitz ist und jede Privatisierung mit Belgrad verhandelt werden muss? Auch einer künftigen demokratischen Regierung in Belgrad, so sie denn kommt, hätte man einen Gefallen getan, die Frage des völkerrechtlichen Status des Kosovo offen zu lassen, um ihr einen mittelfristig ohnehin unumgänglichen Verzicht auf die Provinz innenpolitisch zu erleichtern.
Aber so weit ist es längst nicht. Erst mal geht es darum, eine Provinz wieder aufzubauen. 50.000 Häuser sind irreparabel zerstört, weitere 50.000 partiell. Die ganze öffentliche Verwaltung muss aus dem Nichts aufgebaut werden: Justiz, Katasteramt, Postwesen, Polizei, Steuerwesen und und und.
Nach den großen Dramen, die das Kosovo ein Jahr lang in die Schlagzeilen gebracht haben, kommen nun die Mühen der Ebene mit den vielen kleinen Dramen. Sie sind weniger spektakulär, sie verkaufen sich schlechter. Das Kosovo wird in den Zeitungen wieder auf die hinteren Seiten rutschen, auch in dieser.
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