„Bist du okay, Honey?“

■ Beziehungfrust, Aids und Geldgeilheit: John Larsons „Rent“ in der Freien Volksbühne

„Rent“ will nicht mehr sein als das pure, nackte Leben. Ungeschminkt und hautnah. Keine kitschigen Seifenblasen-Welten, keine Fantasy-Traumgebilde. Die Helden hier sind einfach Menschen. Kleine und große Verlierer. Sie träumen von einer Karriere als Filmemacher, Performance-Künstlerin oder Rockmusiker. Sie leiden an Beziehungsfrust, Aids oder Geldgeilheit: „Rent“ spielt im East Village von New York, irgendwann Anfang der 90er Jahre, und ist damit eigentlich ziemlich aktuell. Und gleichzeitig schon ziemlich veraltet: Offensichtlich ist heutzutage nichts schwieriger, als den Zeitgeist in einem Musical einzufangen.

Dabei sollte „Rent“ doch „Die Revolution des Musicals“ sein, und am Broadway war das Stück vor drei Jahren tatsächlich eine große Überraschung. Fünf Jahre schrieb Jonathan Larson an seinem Opus, überzeugte einen Produzenten – und fiel, gerade mal 35 Jahre alt, wenige Tage vor der Uraufführung einfach tot um. Das schafft einen Mythos. Aber ein „Kult-Stück“? Neu, wenn auch nicht gerade revolutionär, mag 1996 in New York allenfalls gewesen sein, dass die jungen Outcasts der Stadt, die ewigen Verlierer – Junkies, Obdachlose, Aidskranke, mittellose Künstler, Homosexuelle – zu Helden einer Bühnenshow werden. Und überraschend war allenfalls der lang anhaltende Erfolg in den Staaten. Bei der deutschsprachigen Erstaufführung in Düsseldorf war man schon nicht mehr so begeistert.

Nun ist die Produktion (Regie: Martha Banta) etwas überarbeitet mit teilweise neuem Ensemble in der Freien Volksbühne angelangt – das erste Musical des Theater des Westens unter seinem neuen Intendanten Elmar Ottenthal, der das Haus in der Schaperstraße parallel zum Stammtheater in der Kantstraße bespielen möchte.

Eigentlich eine nette Idee: Ein Stück wie „Rent“ müsste doch nach Berlin passen. „Rent“ ist weniger ein Musical als eine Rockoper (und erinnert einen passagenweise tatsächlich an „Hair“). Auf der spartanisch-trashigen Bühne (Ausstattung: Paul Clay) singt und spielt ein 16köpfiges Ensemble uns eine Geschichte aus dem Leben der modernen Boheme. Puccinis Oper lässt grüßen. Man lebt oder besser vegetiert in einem heruntergekommenen Fabrikloft. Strom wird illegal abgezapft, mal wird das Gelände geräumt, und der Wecker erinnert immerzu, wann die nächste AZT-Pille gegen die Immunkrankheit geschluckt werden muss. Dazwischen wird geliebt, gestritten und gestorben.

Ziemlich viel Story in zweieinhalb Stunden. Womit wir auch schon beim Hauptproblem wären. „Rent“ transportiert seine Geschichte über gesungene Dialoge. Nur sind die meisten Darsteller leider der deutschen Sprache nur bedingt mächtig. Von Textverständlichkeit kann also keine Rede sein. Wer nicht vorab wenigstens die kurze (immer noch zwei Seiten lange) Zusammenfassung gelesen hat, versteht nichts. Dazu kommt die Übersetzung von Heinz Rudolf Kunze: Nicht nur, dass er den Akteuren mehr Silben in die Verszeilen drückt, als die Musik eigentlich zulässt. Auch sein sprachliches Verständnis von „Street Credibility“ scheint etwas veraltet. „Bist du okay, Honey? ... Sie haben dein Money?“

Worin also besteht nun wirklich die „Revolution des Musicals“? Die Musik kann es nicht sein. Die vermengt geschickt harten Rock, Blues und Soul, makellos vom Blatt gespielt, und gesungen wird fast durch die Bank mit Drive und stimmlich respektabel (insbesondere von John Patridge als Rocksänger Roger). Ohrwurmqualität allerdings hat kaum ein Song, allenfalls noch die eine oder andere Ballade. Und die Geschichte? Die lässt dem Zuschauer nur bedingt die Chance zur Identifikation. Wie auch. Ein Dutzend Wesen springen über die Bühne und spulen ihre mit dem Sprachscout eingeübten Sätze mechanisch ab. Von Emotionen keine Spur. Da freut man sich schon fast auf die Sterbeszenen: Die sind wenigstens kitschig.

Eine Revolution wäre vielleicht gewesen, dass hier die Verlierer der Gesellschaft auch wirklich als Verlierer gezeigt werden. Aber selbst da zeigt sich Autor Larson zu sehr als Träumer: Alles wird gut. Die Sterbende lebt weiter, der böse Vermieter wird zum Gutmenschen mit Herz, die Miete ist bezahlt, der geniale Rocksong komponiert und eine Filmkarriere plötzlich in Aussicht. Wirkliche Outcasts haben auf dem Broadway eben doch keinen Platz.

Axel Schock

Freie Volksbühne, Schaperstraße 23 – 27. Täglich außer Mi 20 Uhr; So 15 Uhr.