Rudern gegen den Strom

■ Der heutige Weltalphabetisierungstag soll daran erinnern, dass Lesen und Schreiben nicht für alle selbstverständlich ist

Susanne Schugk kannte sämtliche Tricks. Zur Behörde ging sie immer nur mit bandagierter Hand, im Restaurant bestellte sie die Gerichte der Tischnachbarn, und im Notfall hatte sie eben einfach ihre Brille vergessen. Schließlich flog sie doch noch auf. Eine Arbeitskollegin merkte, dass Susanne Schugk Probleme mit dem Lesen und Schreiben hatte.

„Funktionaler Analphabetismus“ lautet der Begriff für Susanne Schugks Problem. Die Betroffenen scheitern im Alltag, weil Buchstaben ihnen wenig oder gar nichts sagen. Das Problem ist nicht neu: Schon 1965 erklärte die Weltkonferenz der Erziehungsminister den 8. September zum „Weltalphabetisierungstag“. Doch auch wenn es schon lange bekannt ist – das Problem ist immer noch aktuell.

Zahlen zu nennen sei zwar äußerst schwierig, sagt Almut Schladebach von der Hamburger Volkshochschule. „Aber wir gehen davon aus, dass in Hamburg rund 40.000 Menschen betroffen sind.“ Laut Ursula Giere vom Institut für Pädagogik der Unesco in Hamburg hätten zwischen 0,75 und 3 Prozent der Erwachsenen in den Industrieländern nach Einschätzung der Bildungsorganisation der Uno Probleme mit Lesen und Schreiben.

Susanne Schugks Kollegin zeigte Verständnis. „Sie erzählte mir von den Kursen der Volkshochschule und ist auch beim ersten Mal mitgekommen“, erinnert sich Schugk heute. Die Teilnahme an am Kurs war wie eine Befreiung. „Ich habe Leute getroffen, denen es genauso ging wie mir.“ Weil der Kurs sich zeitlich mit ihrem Fußballtraining überschnitt, weihte Schugk auch ihre Frauschaft ein. „Natürlich war ich nervös. Aber alle haben mich unterstützt“, erinnert sich die 37-Jährige heute.

„Wir müssen die Menschen dazu ermutigen, dort wieder anzufangen, wo sie bereits einmal kläglich gescheitert sind“, schildert Peter Hubertus die besondere Schwierigkeit der Bildungseinrichtungen für funktionale Analphabeten. Der Geschäftsführer des „Bundesverbandes Alphabetisierung“ macht sich Sorgen: „Hamburg war eine der Städte mit den meisten Bildungseinrichtungen“, sagt er. „Viele davon sind in den letzten Jahren geschlossen worden.“ Für Betroffene und deren Angehörige hat der Verein das „Alfa-Telefon“ eingerichtet: Tel.: 02 51 – 53 33 44.

14 Jahre ist es nun her, dass Susanne Schugk lesen gelernt hat. Inzwischen hat sie ihren Hauptschul-abschluss nachgeholt und steckt mitten in einer Lehre. Die Volkshochschule besucht sie immer noch regelmäßig. „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom“, sagt sie. „Wenn man aufhört, wird man ganz schnell abgetrieben.“ jo