Spiel und Vorspiel

Drei Freunde wollen sie sein: Das Theater, der Fußball und die Cottbusser. Mit der Fußballshow „Lothar rennt“ und der DDR-Operette „Messeschlager Gisela“ wird gemeinsam lustvoll „gesundes Selbstwertgefühl in der Region“ geprobt  ■   Von Anke Westphal

Lautlos schleicht sich der Vopo an. „Beschädigen Sie nicht das Volkseigentum!“ Die Frau zuckt zusammen. Arglos hatte sie in einer Modezeitschrift von 1954 geblättert.

Dieselbe hängt neben FDJ-, FDGB-, DSF- und ähnlichen Ausweisen, neben Fotos, Urkunden und Pittiplatsch-Zuckertüte aus der „Deutschen Demokratischen“ an der Wand im Foyer des Staatstheaters Cottbus. Das Theater erweitert sich an diesem Sonnabend rückwärts – es wird wieder DDR. Hier „Straße der Besten“, da „Medizin nach Noten“. Es wird „Bo-Wu“ (Bockwurst) zum Originalpreis von 0,95 M gereicht, und auch das Brot dazu ist original pappig.

Ein hübscher Einfall, sowie leicht verwirrend: Da die Ossis mittlerweile Wessis und demnach Ausländer sind, müssen sie ordentlich in die Theater-DDR „einreisen“, mit Visum, Geldumtausch (Kurs 1:1), barsch belehrenden Grenzbeamten, „Aktueller Kamera“ und Intershop. Überall bilden sich lange Warteschlangen. Die Einheimischen finden die späte Kopie „herrlich“, wo das langjährige Original ärgerte. Den zugezogenen Wessis im Publikum, oberste Oberärzte zumeist, missfällt das Vorspiel. Auch möchten sie kein Geld tauschen. Ziviler Widerstand blüht. „Wenn ich aber nichts verzehren möchte!“, giftet eine Dame mit spitzen Lippen im rappelvollen Theater. Spielverderberin.

Das Theater ist heute ein Wohnzimmer, wo man es sich kuschelig machen darf wie auf Mamas Schoß. Gegeben wird „Messeschlager Gisela“, eine – jawohl – DDR-Operette aus dem Vor-Mauerbau-Jahr 1960. Eine kapriziöse Programmwahl, durchaus, die nicht aufs tiefsinnige Spiegeln der Gegenwart zielt. So will es Steffen Piontek, der 1962 in Bitterfeld geborene Regisseur, und die Zuschauer werden es ihm danken. Kritiker hingegen mögen es selten, wenn Theater, die nicht in großen Städten residieren, auch diese Seite des Publikumsgeschmacks respektieren.

Kritiker mögen es noch weniger, wenn sich das Interesse des gemeinen Mannes auf das populäre DDR-Erbe, auf Schlager und „Bambina“-Schokolade, erstreckt. Da wird dann schon mal von „DDR-Revanchismus“ geredet, was mitunter zur Folge hat, dass der gemeine Mann dann tatsächlich gemein wird.

„Messeschlager Gisela“ erlebte Anfang der Sechziger 74 ausverkaufte Vorstellungen und wurde dann „auf staatliche Empfehlung“ abgesetzt. Es verhält sich nämlich so: Der Betriebsdirektor des „VEB Schick“, ein alter Mann mit Hütchen, lässt sich auf seinen zahlreichen Reisen ins kapitalistische Ausland von demselben inspirieren und entwirft komplett an den Bedürfnissen der werktätigen DDR-Frauen vorbei. Direktor Kuckuck will „Dior überholen“. Die junge Designerin Gisela Claus hingegen erfindet – hallo Zukunft! – das flotte und praktische „Kleid für jede Frau“, die dicke, dünne, alte, junge. Summa: Basis besiegt lebensfremde Partei, Betriebsdirektor wird wegen Unfähigkeit von der Belegschaft entmachtet. Rock 'n' Roll ist okay.

„Messeschlager Gisela“ zeigt eine DDR, wie es sie nie gab. Dederon-Schürzen fahren schwer poetisierend im Karussell (wunderbare Ausstattung: Mike Hahne). Was für ein Traum. Damals schon, heute erst recht. Und vollkommen Nostalgie-ungeeignet. Deswegen muss der Stoff auch nicht zusätzlich politisiert werden. Es spricht für Gelassenheit im Umgang mit dem Begriff Kunst, wenn ein Theater auch Angebote wie den „Messeschlager“ macht.

Die Operette stammt von Gerd Natschinski, dem wichtigsten Unterhaltungskomponisten der DDR. Der Ostmensch kennt seine Hits. Klatschen und Trampeln bei „Die Welt gibt sich ein Rendezvous in Leipzig bei der Messe ...“. Piontek, der sich gegen jedeVerfremdung entschied, inszeniert ein „Ballett der Völkerfreundschaft“, Signalworte und Running Gags satt: „Der Zug aus Bitterfeld hat weitere 50 Minuten Verspätung.“ Bitterfeld liegt praktisch um die Ecke; manches Mal wäre man besser gelaufen, als am Bahnsteig zu warten. Am Ende Bravos! Die Cottbusser toben.

Schon vor Beginn der Probenwurden sie in die Produktion einbezogen, gebeten, Requisiten zu spenden, Zeugnisse ihres DDR-Lebens. In der Dramaturgie stapelten sich bald Säcke voller DDR-Memorabilia. Der Wessi an sich mag das nicht verstehen und beklagt die Demütigung der DDR-Alltagsdinge. Der Cottbusser freut sich einfach darüber, dass er bei der Verarschung seiner schönen alten Kittelschürze kräftig mittun kann. Kittelschürzen und der VEB Schick beherrschen das Cottbusser Theater. Die DDR in Form einer klassischen Operette. War die DDR der Form nach eine Operette mit tragischen Inhalten?

Ist die BRD ein Event so wie Fußball? Auf dem Spielfeld ist alles übertrieben – Emotion, Erkenntnis. Im Theater auch. Theater und Fußballverein sind Familien, denen man sich freudig hingeben kann und die man nach zwei Stunden wieder los ist. Drei Freunde wollen sie sein: die Cottbusser, das Theater und Energie Cottbus, der Ost-berühmte Fußball-Zweitligist. Die Sympathieträger haben für diese Saison einige konzertierte Aktionen geplant, was schon im Vorfeld als „Populismus“ belächelt wird.

Das Philharmonische Orchester Cottbus wird zum Auftakt des Spiels gegen Schalke 04 die Cottbusser „Clubhymne live auf dem Rasen intonieren“, und der Sport zieht in Form einer „Fußballshow“ ins Theater. Die Ankündigung spricht von einer Gemeinschaftsaktion für „intelligente Unterhaltung und ein gesundes Selbstwertgefühl in der Region“.

Bei Ronny Gersch, dem Pressesprecher von Energie Cottbus, laufen die Telefone heiß, seit das Stadttheater den Fußball zum Thema einer leichtfüßigen Kunstbemühung macht. Fußballfans wollen Theaterkarten bestellen, laut Gersch „Verbundenheit auf allen Ebenen“. Am 17. September feiert „Lothar rennt. Leben(d) für den Fußball“ Uraufführung, die zweite Regiearbeit des Berliner Schauspielers Jörg Steinberg, der lange Jahre Stürmer beim SSV Köpenick war; sein Dramaturg und Co-Autor Holger Kuwa stammt aus der Cottbusser Gegend. Fußball ist ihnen unmittelbarer Gegenstand und nicht soziale Metapher.

„Lothar rennt“ nutzt das Tagebuch Lothar Matthäus' als losen Faden. Ein Fußballpsychologe kommentiert und entdeckt, oh Überraschung, eine Menge Parallelen zur Cottbusser Mannschaft. Die Theaterscheune Ströbitz wird zum „Spree-Neiße-Sportstudio“ umgebaut. Echte Energie-Spieler sollen das Stück als Gäste beehren, damit sich kein Fan vor dem ungewohnten Milieu fürchten muss. Echte Energie-Spieler werden den Eilenden auch von Plakaten herab ermahnen – auch du, lieber Freund, ins Theater!

Wenn der „absolut berauschte Fußballfan XY sehen will, was die Theaterheinis und Literaten mit seinem Fußball machen“, kann das für beide Seiten spannend und profitabel sein. Hofft Regisseur Steinberg. Die Stadien sind voll – Theater eher nicht. Warum sollen sich Künstler und Fußball nicht auch künstlerisch zusammentun, wenn sie kulturpolitisch gemeinsam für Toleranz eintreten. So kann man „Lothar rennt“ vielleicht als entfernten Verwandten jener ernsteren „Zonenrandermutigungen“ ansehen, die das Stadttheater seinem Publikum seit einiger Zeit anbietet. Apropos: Auch die „Zonenrandermutigungen“ konnten die eiligen Kritiker nicht leiden, womöglich nur wegen des Titels. Ziemlich leichtfertig von ihnen. Die Cottbusser machen Theater für ihre Stadt. Wenn das nicht mehr ist als Einsicht in eine Notwendigkeit.

„Messeschlager Gisela“ von Gerd Natschinski und Jo Schulz. Regie: Steffen Piontek (alle Vorstellungen ausverkauft). „Lothar rennt“ von Holger Kuwa und Jörg Steinberg. Regie: Jörg Steinberg. Uraufführung: 17. September, Staatstheater Cottbus