„Nein, gestohlen hat er nicht!“

In der heruntergekommenen rumänischen Industriestadt Iasi machen viele Jugendliche eine kriminelle Karriere. Zuerst treiben sie sich auf den Straßen rum, dann landen sie in Kinderbanden im Ausland, und schließlich werden sie abgeschoben  ■   Aus Iasi Keno Verseck

Die Kriminellen schlendern langsam auf die Straßenmitte zu und bleiben da stehen. Sie blicken den Ermittler abfällig an. Breitbeinig, kaugummikauend. Junge, athletische Typen, keiner älter als dreißig. Trainingshose, Turnschuhe und Muskel-Shirt sind ihre Uniformen. Die Autos weichen ihnen aus. Dies hier ist ihr Viertel.

Dumitru Opinca, der rumänische Ermittler, blickt gelassen zurück. „Die kennen mich, ich kenne sie“, sagt er ungerührt. „Der da mit der Glatze hat in Deutschland wegen Raubes gesessen, der daneben mit der Sonnenbrille wegen Einbruchs und Körperverletzung.“ Dann lächelt er: „Eines Tages krieg ich euch alle.“ Die jungen Kriminellen können ihn nicht hören. Aber sie scheinen zu verstehen. „Guten Tag, Deutschland!“, ruft einer dem Besucher zu und lacht hämisch.

Das Viertel ist ein antlitzloses Ghetto. Zwischen den Neubauten schlängeln sich verrostete Fernwärmeleitungen hindurch. Es gibt wenig Grün, dafür umso mehr Schutt und Müll. Die Straßen sind von Schlaglöchern übersät, manche ganz aufgerissen. Kinder spielen in großen Pfützen mit Papierschiffchen und werfen Steine in das schlammige Wasser. Allenthalben wachen Gruppen von Straßenhunden über ihr Territorium.

In einem der verfallenen Betonblocks wohnt die Familie Balan. Fünf Personen in einem Zwölf-Quadratmeter-Zimmer. Aus der Brotfabrik nebenan zieht süßlicher Geruch durchs Fenster herein. Maria, die Mutter, kocht aus Wurst- und Gemüseresten eine Suppe. „Mihai hat immer gemacht, was er wollte“, sagt sie zärtlich. Ihr Sohn sitzt auf dem Sofa und streicht sich verlegen über den kurzgeschorenen Kopf. Es ist einer der seltenen Tage, an denen er zu Hause ist.

Mihai fuhr vor drei Jahren, im Sommer 1996, damals gerade 14 Jahre alt, zusammen mit rumänischen Kriminellen illegal nach Deutschland. Mitglieder der Bande hatten der Mutter versprochen, dass ihr Sohn es gut haben und Geld nach Hause schicken würde. Doch auf Berliner Straßen musste Mihai für die Kriminellen Geld stehlen. „Manchmal habe ich abends zu wenig mitgebracht“, erzählt Mihai, „dann haben sie mich geschlagen und mit Zangen gekniffen.“ Er sagt es, ohne zu stocken, ein wenig so, als ginge es um jemand anders.

Mihai sieht noch immer aus wie ein Vierzehnjähriger. Viel zu klein und schmal für sein Alter. Gesicht und Augen wie ein kleines Kind. Liliana, seine große Schwester, sagt resigniert: „Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn wir nicht in dieses Viertel gezogen wären. Hier ist das eben so.“

Iasi, im Nordosten Rumäniens, mit 340.000 Einwohnern drittgrößte Stadt des Landes. Bis ins vorige Jahrhundert residierten hier die moldauischen Wojewoden. Burggemäuer, Paläste und Kirchen zeugen vom Glanz früherer Jahrhunderte. Der 1989 gestürzte Diktator Ceausescu blähte Iasi in wenigen Jahrzehnten zum Industriezentrum auf. Zigtausende Menschen siedelten aus den armen Dörfern der Moldau in die Stadt um.

Heute ist der einstige rumänische Fürstensitz nur noch Abraumhalde des Größenwahns. Heruntergekommene Neubauviertel und Industriegebiete klammern den alten Stadtkern ein. Viele Fabriken und Betriebe sind geschlossen. In der Gegend gibt es die meisten Arbeitslosen von Rumänien, Investoren meiden die Region.

Auch die 46-jährige Maria Balan kam einst als junge Frau vom Land in die Stadt. Sie heiratete und brachte vier Kinder zur Welt. Halb Tradition, halb Zwang: Verhütungsmittel und Abtreibung waren vor 1989 streng verboten. Zu den 20 Millionen Rumänen, so hatte Ceausescu angeordnet, sollten bis ins Jahr 2000 zehn Millionen hinzukommen.

Maria Balan arbeitete als Kindergartenverwalterin. Ihr Mann schlug sie, trank. Sie ließ sich scheiden. Die Kinder zog sie allein auf. Unterhalt bezahlte ihr Ex-Mann nie. Vor vier Jahren erlitt sie beim Essenkochen schwere Verbrennungen, musste mehrmals operiert werden und ist seitdem fast arbeitsunfähig.

Die beiden Mädchen, Liliana, 22, und Alice, 20, gingen als Verkäuferinnen arbeiten, nachdem sie die Schule beendet hatten. Mihai und sein Bruder Costel, 15, trieben sich dagegen auf der Straße herum. Dort lernten sie Constantin Corduneanu kennen, einen ehemaligen Profi-Ringkämpfer, der in der Unterwelt von Iasi Karriere gemacht hatte.

„Eines Tages, so im Frühjahr 1996“, erinnert sich Maria Balan, „ist Corduneanu mit seiner Frau zu mir gekommen. Sie wollten Mihai mitnehmen. Ich war dagegen, aber sie kamen immer wieder und bedrängten mich. Mihai hatten sie Geschenke gegeben. Als ich gesehen habe, dass ich ihn nicht aufhalten kann, hab ich gesagt, na gut, geh, du machst das auf deine Verantwortung, ich misch mich da nicht mehr ein. Später hat mir dann Corduneanus Frau einmal 50.000 Lei auf den Tisch gelegt.“ Zwölf Mark fünfzig, damals.

Für die Corduneanu-Bande eine lohnende Investition: In Berlin stahl Mihai gewöhnlich älteren Frauen Geld aus Handtaschen. „Es waren meist einige hundert Mark am Tag, manchmal auch mehr als tausend“, erzählt Mihai, „aber Corduneanu war immer unzufrieden.“ Als er dessen Quälereien nicht mehr aushielt, stellte er sich der Polizei. Die brachte ihn einige Wochen in einem Kinderheim unter. Im Herbst 1996 wurde er aus Deutschland abgeschoben. Seine Schwester Liliana erwartete ihn auf dem Bukarester Flughafen. „Mihai hatte blaue Flecken am ganzen Körper“, sagt sie.

So wie ihrem Bruder erging es Dutzenden Kindern aus Iasi. Die Kriminalpolizei schätzt die Zahl der Fälle auf über dreißig. „Das sind Waisen, Kinder aus zerrütteten Familien oder solche, deren Eltern im Gefängnis waren“, sagt Dumitru Opinca. Seine Einheit, die „Brigade zum Kampf gegen organisierte Kriminalität“, verfolgt die Kinderbanden und ihre Chefs schon lange. Sie hat beispielsweise Corduneanu hinter Gitter gebracht. Er sitzt wegen Mord, schwerer Körperverletzung und Raub. Doch das ist ein Einzelerfolg. Meistens können die Beamten nur wenig ausrichten.

Zwar hat die Sonderkommission „Rumba“ („Rumänienbanden“) der Berliner Kriminalpolizei ihren Kollegen aus Iasi stapelweise Unterlagen und Fotos geschickt. Doch den Tätern kann oft nichts nachgewiesen werden, weil sie strafunmündige Kinder für sich stehlen lassen. Die Kriminellen müssen am Ende statt mit Gefängnis nur mit Abschiebung wegen illegaler Einreise rechnen.

Der rumänischen Polizei bleiben ihrerseits meistens nur Mittel wie geringe Geldstrafen oder Reisepassentzug. Aufhalten kann das die Kriminellen nicht. Einmal abgeschoben, beginnt der Kreislauf schnell von vorn. „Vor drei, vier Jahren“, sagt Dumitru Opinca, „gab es eine Blütezeit der Kinderbanden. Jetzt ist ein harter Kern von gut organisierten Profis übrig geblieben, die alle juristischen Tricks kennen.“

Zum „harten Kern“, bei der Polizei bestens bekannt, gehört der Familienclan Gosman: Die Mutter und „Patin“ Emilia, 44, zwei Söhne, drei Töchter, die drei Kinder einer verstorbenen Schwester, die Ehemänner von zwei Töchtern. Die Familie lebt am Stadtrand von Iasi in einem Neubaughetto – ein Dutzend Personen in zwei Zimmern. An den Wänden der Wohnung hängen vergilbte Heiligenbildchen und Poster von Popstars. Zwei Säuglinge schreien martialisch, ein winziger Pekinese knurrt bösartig. Die schwarzen Augen der Clan-Mutter Emilia blitzen mal betörend, mal garstig, dann wieder berechnend. Falten bedecken ihr ganzes Gesicht. Einige Goldzähne blinken im ansonsten zahnlosen Mund, ihre knochigen Finger sind von den Zigaretten ganz gelb.

Aurel, der Sohn ihrer verstorbenen Schwester, ist ihr Liebling. Er war vor zweieinhalb Jahren in Deutschland und erzählt darüber eine wirre Geschichte, in der es von Entführungen, Reisen im Kofferraum von Autos und Flucht wimmelt. Seine Tante Emilia unterbricht ihn ständig. „Nein, gestohlen hat er nicht!“, ruft sie mit erhobener Stimme aus und hält sich die Hand aufs Herz. Niemand in der Familie arbeitet. Alle leben angeblich von Kindergeld und Arbeitslosenhilfe. Eine Tochter, Ionela, 22, ist gerade in Deutschland und dort angeblich verheiratet. Die jüngste, Mihaela, 20, war vor zwei Jahren „eine Woche in Bonn, bei Freunden“. Sie begleitet den Besucher vor die Haustür. „Klar hab ich geklaut“, flüstert sie kokett lächelnd.

Auch Mihai wird wohl so weitermachen. Davon ist seine Schwester Liliana überzeugt. „Wir Mädchen arbeiten. Er und sein Bruder waren anders. Sie sind in diese Geschichte reingerutscht und haben sich an dieses Leben gewöhnt.“

Ein paar Tage sind vergangen. Mihai und sein Bruder sind wieder einmal verschwunden. Der Mutter haben sie erzählt, sie würden in die Türkei fahren, um dort in einer Bäckerei zu arbeiten. Sie hat sie nicht zurückgehalten. Dann kommt ein Anruf. Aus Prag. Mihai versichert der Mutter, es gehe ihm und seinem Bruder gut. Sie würden versuchen, Arbeit zu finden. „Ich habe ihn ja nie aufhalten können“, sagt Maria Balan. Halb Vorwurf an sich selbst, halb Rechtfertigung.

Sie hat andere Sorgen als ihren Sohn. Der Hausverwalter fragt fortwährend, wann sie ihre Schulden bezahlt. Die Mädchen verdienen zu wenig Geld. Sie selbst findet mit einem halbgelähmten Arm keine Anstellung. „Früher“, erzählt sie, „habe ich die beiden Jungen jeden Tag zur Schule gebracht, aber sie sind immer wieder abgehauen. Dann wollte ich sie ins Heim geben. Da haben sie mir gesagt, die müssen Sie schon selbst großziehen. Ihr Vater hat seit der Scheidung vor zwölf Jahren nicht ein einziges Mal nachgefragt.“

Sie hält inne und überlegt. Dann sagt sie: „Wissen Sie, nach all den Prügeleien, die mein ehemaliger Mann früher veranstaltet hat, wollte ich meine Kinder nicht schlagen. Vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht hätte ich Mihai ab und zu ohrfeigen sollen.“