Goebbels im Nebel

■ Zum Saisonauftakt am Bremer Schauspielhaus hat der Regisseur Thomas Bischoff wieder ein altes Stück neu gelesen und es diesmal abgestempelt: „Der blaue Boll“ von Ernst Barlach erstickt unter einer Regieidee

Sind so viele Aufgaben, die ein Stadttheater bewältigen will: Neue Stücke aufführen und durchsetzen, Alte neu interpretieren und Vergessene ins Bewusstsein der Theatergemeinde zurückbeamen. Jetzt aber – ach so: Auch am Goetheplatz hat eine neue Saison begonnen, schön gell?! – jetzt also ist eine neue Aufgabe hinzugekommen: Stücke ausbuddeln, um ihnen eine Interpretation zu verpassen, die auf einem Stempel Platz hat. Wumm WUMM: „Faschismusvorahnung“ steht seit Sonntag ganz nüchtern, geradezu furztrocken und eher preußisch als blau auf dem Drama „Der blaue Boll“ des Bildhauers und Dramatikers Ernst Barlach (1870-1938).

Irgendwer hat irgendwann einmal befunden, dass Barlachs 1926 geschriebene Miniaturfaustiade vom trinkfesten und deshalb „blauen“ Gutsbesitzer Kurt Boll eigentlich witzig, dem Herausgeber der Barlach-Dramen, Helmar Harald Fischer, zufolge sogar „herzzerreißend komisch“ ist. Denn dieser Kurt Boll möchte sich verändern, verspürt zumindest den Drang dazu und kleidet das in äußerst pathetische, mystische und sperrige Worte: „Werden ist die Losung“, „die Luft hats in sich“ und „Boll muss Boll neu gebären“ ruft der ostelbische Junker in den nebligen ostelbischen Himmel. Seine Frau Martha, die besessen-verführerische Schweinehirtin Grete (!), die übrigen Menschen sowie der Teufel und Gott höchstpersönlich kontern mit Wortsalven und Satzbrocken, die genauso pathetisch, mystisch und sperrig sind. Aber komisch dürfen sie, auch wenn das am Schluss freundlich klatschende Premierenpublikum vereinzelt trotzdem lacht, seit Sonntag nicht mehr sein: „Ich kann diesen Humor nicht entdecken“, sagt der in der dritten Spielzeit hintereinander quasi auf die Eröffnung der Bremer Schauspielsaison abonnierte Volksbühnen-Hausregisseur Thomas Bischoff. Nach Müllers „Medeamaterial“ 1997 und Schillers „Kabale und Liebe“ 1998 macht er sich jetzt am Barlach die ganz frei nach Guido Knopp zitierte (Fernseh-) Historiker-Devise zu eigen: Hinterher weiß man mehr als währenddessen.

Mecklenburg ist grau, gräulich, ein Gräuel. Vor einer gezackten und vieltürigen Wand erklimmen Boll und Co. die Bühne (Bild: Uta Kala). Wie in einem Räderwerk lässt Bischoff das Personal über eine Stiege aus dem Untergrund kommen. Es sind Untote aus einer buchstäblich dunklen Zeit, die da auf den Plan treten und davon reden, dass etwas im Werden ist, werden will oder werden muss. Anfangs in versteckter, dann in immer offenerer Aggression sind sie teils aufeinander, teils auf sich selbst böse.

Doch im Gegensatz zur bemerkenswerten „Kabale und Liebe“-Inszenierung, die Bischoff als konsequent vereistes Körpertheater einstudiert hat, bleiben seine Einfälle diesmal einzeln: Wo bei Barlach der Boll und Grete einander noch berühren, schaltet Bischoff Babypuppen dazwischen. Und in obskuren Ritualen setzen die Herren ihre Hüte auf und wieder ab oder dreschen mal mit ihrer Kopfbedeckung aufeinander ein.

Es sind dies kleine Ideen für den einen, anderen, großen Einfall. Denn schon in Berichten vor der Premiere hat Bischoff angekündigt, das Stück in seiner Entstehungszeit zu sehen und aus dem Drama das Vorfaschistische herauszulesen. So vorbereitet sitzt man da im Schauspielhaus und sieht sprechende Ausdrucksplastiken, die teils zu Gruppen- und Machtkonstellationen modelliert sind, teils einfach über die Bühne huschen. Es sind Statuen der Verelendung durch (Kleinstadt-) Kultur, denen nicht mal der bei Barlach noch reichlich getrunkene Alkohol sichtbar etwas anhaben kann.

Nur Anika Mauer darf das strenge Gesamtbild als Grete mit einer Prise Temperament durch Wahnsinn würzen. Dagegen ist es ein Wunder, wie Bischoff es hingekriegt hat, dass Peter Pagel als Vetter Otto den Satz „Je mehr ich trinke, desto eher werde ich mit den Flaschen fertig“ so spricht, dass man sich nicht biegt vor lachen.

Bischoff jedenfalls hat es hingekriegt und ansonsten seine Theorie im Blick (für die er neben den Räuschen besonders in der „Teufelsküchen“-Szene streicht). Obwohl am Schluss ein Hakenkreuzfähnchen wackelt, kommt Bischoff nicht mit dem Holzhammer, sondern vielmehr mit dem Hinkebein: Wie Joseph Goebbels zieht der Herrgott (Andreas Herrmann) sein Bein (das „Satanshinterviertel“) nach. Mit einem Blick auf die subtilen Kräfte der Demagogie sagt's Bischoff mit Körpersprache: Bald hinken auch die anderen. Aus heutiger Sicht haben die vorletzten Worte des Herrgott Goebbels „Leiden und Kämpfen sind die Organe des Werdens“ tatsächlich nichts Komisches mehr an sich.

Trotzdem wirkt die Inszenierung denkbar akademisch. Unter dem durchaus aus dem Drama herauszulesenden Einfall wird in der Einstudierung jedes Leben begraben. Der Zweck erstickt Stück und Figuren. Die Untoten aus dem Bühnenkeller des Bremer Schauspielhauses wären vielleicht weniger museal, wenn sie einen erst zum Lachen brächten und einem das Lachen dann im Hals stecken bliebe. Doch Bischoff hat Wumm WUMM gemacht. Der Boll ist abgestempelt. Zu den Akten damit.

Christoph Köster

Weitere Aufführungen: 19., 26. und 30. September um 20 Uhr im Schauspielhaus