Die ganze Welt soll Ich werden

Die CD zur Erzählung über die Lesereise mit dem ersten Roman und so weiter: Benjamin von Stuckrad-Barre ist ein Meister der Selbstvermarktung, ein großer Popjournalist und kein guter Romancier  ■   Von Oliver Fuchs und Axel Henrici

Wahnsinn, oder? Methode. Als der Journalist Benjamin von Stuckrad-Barre vor einem Jahr, mit 23, seinen ersten Roman vorstellte, hatten die Leser mit solchen Sachen schon Erfahrung. Der Kollege Christian Kracht hatte das Genre Egozentrikprosa jugendlicher deutscher Pophelden drei Jahre zuvor mit „Faserland“ eingeführt. Krachts Held war genauso sensibel, melancholisch und verloren wie Holden Caulfield in „Der Fänger im Roggen“. Er rang nur auf andere Weise um Weltfindung, nämlich mit der sehr achtziger-Jahre-typischen Fragestellung, welches Hemd denn jetzt am besten zu der sauteuren Barbour-Jacke passt.

Stuckrad-Barre schrieb in die vorbereitete Form hinein, ließ die Empfindsamkeit aber ganz weg, denunzierte hier ein paar Leute, baute da ein paar Sexszenen ein. Dabei kamen ihm sein enormes Talent für Unterhaltung, seine charmante Gehässigkeit und das natürliche Rhythmusgefühl des Popkritikers zugute. Fertig war ein Buch, das man wie eine gute Platte mehrmals am Tag hören wollte: „Soloalbum“. Stuckrad-Barre hatte eine eigene Sprache gefunden, die gerade deshalb frisch war, weil nicht alle Koksnase lang jemand „Voll krass, Alter!“ sagen musste, um Jugend zu behaupten. Die Reaktionen waren geteilt. Die einen bedachten das Buch mit prinzipiellem Wohlwollen, als sei schon die Tatsache bemerkenkenswert, dass ein 23-Jähriger heutzutage überhaupt schreiben kann (bei „Crazy“ vom 16-jährigen Benjamin Lebert gerieten sie dann vollends aus dem Häuschen).

Die andere Fraktion hielt dagegen an strengen E-/U-Richtlinien fest und reckte warnend den Finger: „Ja, aber ist das denn LITERATUR?“ Kümmert's wen?

So lange es ein Buch ist, das man gerne liest. Zu Zeiten, in denen im Buchhandlungssortiment von A wie Amelie Fried bis zu W wie Wickert, Ulrich (um mal im Kreis der Kollegen zu bleiben) in Büchern alles Mögliche, nur eben keine LITERATUR drin steht, sollte es erlaubt sein, einen Roman zu schreiben, der keiner ist. „Soloalbum“ leistete als Glossensammlung hervorragende Dienste und war auch als autobiografische Skizze und Liebeskummer-Erfahrungsbericht durchaus lesenswert. Doch wenn Stuckrad-Barre ehrlich ist, und das ist er in seinem Roman, dann muss er zugeben, dass er mit einem Romancier genauso viel gemeinsam hat wie Oasis mit Avantgardemusik. Aber das macht ja nichts. Stuckrad-Barre ist Popjournalist. Da hat man einfach keine Zeit, einen Gedanken länger als zwei Absätze und drei Pointen durchzuhalten. Und vielleicht ist „Roman“ ja nur ein Wort, das man auf ein Buch drauf schreibt, weil man es verkaufen will.

Auch in dem – vorsichtiger als Erzählung titulierten – Nachfolgewerk „Livealbum“, in dem Stuckrad-Barre mit dem gewohnten Formulierungsfuror ausschließlich von seiner Lesereise mit dem „Soloalbum“ erzählt, versucht er, aus seiner Not eine Tugend zu machen, und reiht eine Prosaminiatur an die nächste – in der schwachen Hoffnung, dass am Ende irgendwas Episches dabei herauskommt. Das Bauprinzip ist noch simpler als bei „Soloalbum“, wo sich der Autor immerhin die Mühe machte, seine Texttracks nach den passenden Oasis-Songtiteln zu sortieren und zu betiteln. Die Kapitel in „Livealbum“ heißen einfach „Show #1“, „Show #2“ und so weiter. Wenn zum ersten Gig alles gesagt ist (und das ist schnell der Fall), kommt halt der zweite dran. Heute hier, morgen da. So ist das eben im Showgeschäft.

Stuckrad-Barre räumt den branchentypischen Künstlerwehwehchen üppig Platz ein (Lampenfieber! Kater! Unsensible Interviewer!), was den gegen Jungautoren gerne gehegten Narzissmusverdacht nicht gerade entschärft. Daher sind die besten Stellen die, wo man merkt, dass es ihm um Wirklichkeit geht. Die Haltung, die er hier der Welt gegenüber einnimmt, ist die des Reporters. Der begnadete Zeitungsschreiber hat es auf dem Feld des meinungsbetonten 100-Zeilers (die er vor allem in der taz veröffentlichte) zu Ruhm gebracht, bringt aber seltsamerweise im selben leicht vorlauten und ungeduldigen Schreibstil auch prima Reportagen zu Stande, die dann wirklich gegen jede Regel der Zunft verstoßen. Für Journalistenschüler und ihre Lehrer, die ja von Berufs wegen auf die Reinheit der Textgattungen pochen und Fakten (Bericht), Meinung (Kommentar) und Vor-Ort-Anschauung (Reportage) fein säuberlich voneinander trennen, lässt sich jedenfalls kein schöneres Geschenk denken als „Remix“, eine Sammlung der glanzvollsten Artikel Stuckrad-Barres.

Mit staunenswerter Frechheit ignoriert er die Konventionen des Feuilletons und erfindet neue Textsorten (wie „Gottschalks Moderationszettel“ – statt einer nachträglichen „Wetten, dass ...?“-Besprechung) und liefert ein Reader's Digest sämtlicher Deutschrockstar-Plattitüden, indem er ein imaginäres Interview mit „DER deutschen Band“ führt. Der Popkritiker Stuckrad-Barre hat mit New Journalism, der gegenseitigen Befruchtung von objektivem Fakt und subjektiver Fiktion, wirklich Ernst gemacht. Dazu gehört dann auch ein Verwertungskreislauf, der in dieser Perfektion ebenfalls ziemlich new ist: „Soloalbum“, „Livealbum“, „Liverecordings“ (die CD zum „Livealbum“) und demnächst bestimmt der Film „Benjamin – beinhart“.

Seine Herkunft aus der Meinungsmaschine Feuilleton, die er mit neuen und interessanten Meinungen zu füttern weiß, kann er natürlich beim Schriftstellern nicht verleugnen. Sein größter Vorzug als Journalist ist zugleich sein größter Nachteil als Schriftsteller. 250 Seiten pointierte Meinung – das strengt an beim Lesen. Letztlich scheiden sich bei Stuckrad-Barre die Geister an der Frage, ob man seinen subjektiven Ausschweifungen folgen mag, sich also für seine Idiosynkrasien interessiert oder nicht.

Entschließt man sich zu Ersterem, so lässt sich „Livealbum‘‘ auch lesen als ein – weder sich noch andere schonendes – Selbstexperiment, bei dem man Zeuge wird, wie jemand ausprobiert, was es mit einem macht, wenn man auf einmal „in der Öffentlichkeit steht“. Dann reicht es einem nämlich auf einmal nicht mehr, über die Medien zu schreiben. Nein, man möchte dann bitte schön auch in den Medien sein. Tatort Talkshow, drittes Programm: „Um uns herum hingen Monitore von der Decke, und wo man auch hinschaute, ständig sah man sich selbst. Ich antwortete dem Moderator höflich auf eine Frage, die er Sepp Maier gestellt hatte, und guckte gebannt in den Bildschirm statt in die Moderatorenaugen.“

Das Skandalon (manche sagen auch: das Banale) bei Stuckrad-Barre ist ja gerade, dass da jemand zugibt, seinen Arsch und seine Seele an die Medien verkauft zu haben – und den Leser erbarmungslos detailliert an dieser Erfahrung teilhaben lässt. Neulich hat er im Aufrag des Spiegel Salman Rushdie verrissen, eben erst kaufte ihn die FAZ aus der „Harald Schmidt Show“ heraus, wo er als Pauschalist Witze fertigte. Als Zeitung für avancierten Popjournalismus war die „Zeitung für Deutschland“ bis dato nicht bekannt. Aber jetzt hat man auch dort die Zeichen der Zeit erkannt und leistet sich einen Hofrebell mit adeligem Namen. Was will so jemand von der FAZ? Was will die FAZ von ihm? Wer unterwandert wen? Entweder ist es Wahnsinn oder Methode.

Benjamin von Stuckrad-Barre: „Livealbum“. KiWi 1999, 254 Seiten, 16,90 DM „Remix“. KiWi 1999, 335 Seiten, 18,90 DM