Schlagloch
: Vom Ende der Opposition

■ Von Klaus Kreimeier

Was Wunder: Auch in der Kunst gibt es keine Extremisten mehr, nur noch Freaks

„Gehen wir nun gemeinsam den Weg in die Opposition.“

Thüringens SPD-Vorsitzender Richard Dewes am Abend nach der verlorenen Landtagswahl

Eine Dramatisierung des Befunds mag ja unangebracht sein, aber festgehalten zu werden verdient schon, dass unseren gesellschaftlichen Strukturen, auf welchem klammheimlichen Wege auch immer, die Opposition abhanden gekommen ist. Das Wahl-Marathon, das wir gegenwärtig über uns ergehen lassen, ist – mitsamt der jeweils sofortigen und umfassenden Nachbereitung durch Sabine Christiansen – besonders geeignet, uns in diesem Punkt die Augen zu öffnen.

Nicht nur, dass sich die alten Frontlinien zwischen den jeweiligen Regierenden und denen, die zur Zeit gerade mal nicht regieren, vollkommen verschoben oder vielmehr: aufgelöst haben. Der Begriff, ja der eigentliche Grundgedanke selbst, das politische Selbstverständnis und das kulturelle Wertgefüge, das einmal auf dem Pro und Contra der politischen Konzepte aufgebaut war: All das gehört offenbar der Vergangenheit an.

Keineswegs sind alle einer Meinung. Das Problem ist vielmehr, dass alle durcheinander reden, so dass nicht mehr herauszuhören ist, wer eigentlich wogegen oder wofür ist und wo die Trennlinie verläuft zwischen denen, die sich unablässig selbst widersprechen, und denen, die zufällig, aber regelmäßig die Meinung derer teilen, die stets, aber auch nicht immer, das Gegenteil behaupten.

Es handelt sich dabei um einen grundlegenden Trend, der gegenwärtig nur darum besonders krass in Erscheinung tritt, weil eine Partei, die sechzehn Jahre lang in der so genannten Opposition war, die Regierung übernommen hat, ohne ein Konzept für das Regieren zu haben, wodurch die jetzige Oppositionspartei in die schwierige Lage geraten ist, zu opponieren, ohne genau zu wissen, wie man das macht.

Die Politologen behaupten ja schon lange, dass Idee und Praxis der traditionellen Programmpartei historisch ausgedient haben. Sonderbar ist nur, dass eine extrem konservative, um nicht zu sagen reaktionäre Programmpartei wie die Partei des Demokratischen Sozialismus zur Zeit einen Haufen Stimmen holt, ohne auch nur im Mindesten zu der Hoffnung zu berechtigen, hier wachse eine den aktuellen Problemen angemessene Opposition heran. Umgekehrt gilt, dass das Modell der „Funktionspartei“, das lange Zeit als besonders modern galt, sich selbst aus den Angeln gehoben und aus dem politischen Geschehen hinausmanövriert hat – was man am Beispiel der FDP über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten studieren konnte und jetzt am Beispiel der Grünen im atemberaubenden Tempo von gerade mal zehn Monaten beobachten kann.

Wenn aber die Programmpartei ein alter Hut und die Funktionspartei eine schäbige Baseballmütze geworden ist, stellt sich die Frage, wie Opposition im parlamentarischen Rahmen und darüber hinaus überhaupt noch funktionieren soll, zumal das, was einmal die „außerparlamentarische Opposition“ war und heute sein könnte, nur als Resonanzboden des oben beschriebenen allgemeinen Stimmenwirrwarrs hörbar ist.

Nun gut, die Opposition als Einrichtung der Politik müssen wir wohl in der Versenkung verschwinden lassen, und ob es richtig oder falsch ist, ihr keine Träne nachzuweinen, wird sich noch zeigen. Aber fällt es niemandem auf, dass es kein oppositionelles Theater, keine oppositionelle Literatur, keine oppositionelle Presse mehr gibt – um nur diese Beispiele zu nennen, die schließlich einmal formbestimmend, sozusagen strukturell konstitutiv für die Auseinandersetzungen der letzten zweihundert Jahre gewesen sind?

Die letzten zweihundert Jahre sind nicht besonders glücklich verlaufen, es gab Fehlschläge und Katastrophen noch und noch – aber über den ganzen Ärger konnte man immerhin anständig räsonieren, weil es eine oppositionelle Presse, eine radikale Literatur und ein gelegentlich rebellisches Theater gegeben hat.

Heute passieren vermutlich auch jede Menge Fehlschläge, und voraussichtlich werden die daraus resultierenden Katastrophen nicht auf sich warten lassen. Doch es ist nicht auszuschließen, dass uns die Sehschärfe und das Artikulationsvermögen für das, was sich um uns tut und künftig zusammenbraut, allmählich verloren gehen, weil das, was man so Kultur nennt, uns nicht mehr die dafür notwendigen Instrumente bereitstellt.

Das ist erstaunlich, denn in unserem Land geschieht mehr Kulturelles denn je. Dass wir nun auch auf diesem Gebiet einen zuständigen Bundesminister haben, entspricht ja nur den vielfältigen Aufgaben, die von der Kultur übernommen werden müssen, seitdem alle möglichen ehemals fundamentalen Dinge in Fortfall geraten oder zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken sind: die Arbeit und die Sozialfürsorge, die seelische Betreuung der Menschen und der Glaube an den lieben Gott, die Bildungsreise oder auch nur die Fähigkeit, ausdauernd und Gewinn bringend nichts zu tun. Die Kultur und die ihr zugeordneten Schaffenden haben also alle Hände voll zu tun, um uns auf Trab und bei einigermaßen guter Stimmung zu halten.

Nur – die Rolle, die Kultur einmal wesensmäßig innehatte, die Rolle der Opposition gegen den Ist-Zustand der Welt und des entschiedenen Einspruchs gegen den Ablauf der Dinge: Diese Rolle hat sie erst einmal wie ein zerschlissenes Kostüm im Fundus verschwinden lassen. Auch in der Kunst gibt es ja keine Extremisten mehr, sondern nur noch Freaks.

Die Frontlinie zwischen Regierenden und Nichtregierenden hat sich aufgelöst

Sicher hat es seine Vorteile, dass uns keine Neinsager mehr auf die Nerven gehen und dass die wenigen, die noch behaupten, welche zu sein, als komische Figuren allenfalls Artenschutz genießen. Es wäre auch falsch zu behaupten, das Verschwinden der Neinsager habe nun lauter Jasager hervorgebracht, deren euphorisches Gebrüll uns von morgens bis abends in den Ohren dröhnt. Es ist vielmehr so, dass heute weder die Jasager noch die Neinsager besonders gut kommerzialisierbar sind. Niemand möchte in den Verdacht kommen, dass er mit den Verhältnissen rundum einverstanden sei – ebenso wenig wie sich jemand den Ruf zuziehen will, den Status quo radikal abzulehnen.

Jeder, der etwas sagt, teilt zunächst einmal mit, dass er denkt (was keineswegs ein Nachteil ist) – und dann kommt, wenn es gut geht, eine Reihe grammatisch und logisch durchaus korrekt gebauter Sätze, die darüber Auskunft geben, dass der Sprechende hauptsächlich darüber nachdenkt, seine Ratlosigkeit so gut zu verkaufen, dass sie sich bis zum nächsten Interview amortisiert.

Gespenstisch an alldem ist, dass alle Einrichtungen nicht nur dem Namen nach, sondern auch mit ihren Statuten und Gebäuden noch vorhanden sind, während sie im Grunde nichts mehr zu bieten haben – oder etwas ganz anderes als das, was man mit Fug und Recht von ihnen erwarten darf. Das gilt gleichermaßen für das Parlament, die Parteien, die Regierung, die Presse, die Theater, die Kultur überhaupt – und eben auch für die Opposition. Die Thüringer SPD, so ist zu hören, geht jetzt ganz heftig „in die Opposition“.

Nur können wir uns nach den Erfahrungen der letzten Zeit absolut nichts mehr darunter vorstellen – ein Problem, das keineswegs auf Thüringen begrenzt und auch nicht allein der SPD anzulasten ist.