Plötzlich ist ganz Algerien für Frieden

Algeriens Bürger vertrauen ihrem Präsidenten Bouteflika. Beim heutigen Referendum über seine Versöhnungspolitik wird er wohl überwältigende Zustimmung einholen. Die Leute haben genug vom Blutvergießen    ■ Aus Setif Reiner Wandler

So einen Empfang hat Setif seit den Zeiten des Einparteiensystems nicht mehr gesehen. Tausende von Schulkindern säumen die Straßen der Stadt 300 Kilometer östlich von Algier. Präsident Abdelaziz Bouteflika kommt, um für sein Referendum zur nationalen Aussöhnung zu werben.

Die Kinder schwenken begeistert rot-grüne Nationalfähnchen. „Ja zur zivilen Eintracht“ steht darauf. Neben dem roten Halbmond und Stern prangen eine Friedenstaube und das Porträt des Präsidenten. Der Konvoi kommt. Geländewagen der Gendarmerie eskortieren eine Reihe schwarzer Limousinen. „One, two, three – vive l'Algérie!“ stimmen die Kinder an, als wollten sie ihrem Staatschef beweisen, dass der Bildungsetat nicht auf fruchtlosen Boden fällt. Die Fahrzeuge biegen von der Hauptstraße ab, hinunter zur Mehrzweckhalle im Neubauviertel der nach der Unabhängigkeit viel zu schnell gewachsenen Stadt. Auch hier das gleiche Bild: Kinder, Erwachsene, Musikkapellen – tausende jubeln dem Präsidenten zu.

Die letzten zwei Wochen tourte Bouteflika durch das ganze Land. „1999 wird für Algerien das Jahr des Friedens sein“, heißt auch hier in Setif, der letzten Station vor seiner Rückkehr nach Algier, die Botschaft an die tausend geladenen Gäste im Saal und an die Menge, die draußen dem Spektakel über Lautsprecher folgt. Er verlangt ein „Ja“ für sein Gesetz der zivilen Eintracht, das er im Juli in aller Eile durch Parlament und Senat stimmen ließ und das jetzt vom Wahlvolk an den Urnen abgesegnet werden soll.

Der Text sieht eine Amnestie für diejenigen bewaffneten Islamisten vor, die weder an Massakern noch an Bombenanschlägen auf öffentlichen Plätzen noch an Vergewaltigungen beteiligt waren. Der Rest darf, falls er sich ergibt, mit milder Bestrafung rechnen. Nach dem Waffenstillstand Anfang Junider größten bewaffneten Gruppe, der Armee des Islamischen Heils (AIS), dem bewaffneten Arm der 1992 verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS), will Bouteflika einen Schlussstrich unter sieben Jahre Bürgerkrieg mit 120.000 Toten ziehen.

„Wer sich dem Frieden nicht anschließt, für den ist hier kein Platz“, droht der Präsident dem harten Kern der radikalen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) unter stürmischem Beifall immer wieder. Am 13. Januar, am Ende des Fastenmonats Ramadan, läuft die Amnestiefrist aus. „Dann werde ich die Rebellen gnadenlos verfolgen lassen.“

Nur 300 haben sich aber seit der Verabschiedung des Gesetzes der Polizei und Armee ergeben. Wie viele noch in den Bergen ausharren, darüber gibt es keine verlässlichen Angaben. Täglich meldet aber die Presse neue Überläufer. Überall im Lande nehmen still und heimlich Abgesandte der Regierung mit Familienangehörigen von Untergetauchten Kontakt auf.

Nacht für Nacht überträgt das staatliche Fernsehen die Veranstaltungen des Präsidenten. In allen öffentlichen und privaten Kanälen Frankreichs, die in Algerien über Satellit zu empfangen sind, stand Bouteflika Rede und Antwort. Neben nationalistischen Lobreden auf das „friedliebende algerische Volk“ ist auch Ungewöhnliches zu vernehmen. So nennt der Präsident den noch immer in Hausarrest sitzenden Chef der verbotenen „Islamischen Heilsfront“ (FIS), Abassi Madani, „meinen Kampfgefährten aus dem Unabhängigkeitskrieg“ und „politischen Mitstreiter in den Reihen der FLN“, der einstigen Einheitspartei. Der radikale Ali Benhadj, an unbekanntem Ort inhaftierte Nummer 2 der verbotenen FIS, wird „zu einem ehrenwerten Mann mit Überzeugungen“.

Die „Demokraten“, die für eine strikte Trennung von Staat und Religion eintreten und dafür die Wut der religiösen Fanatiker auf sich zogen, werden daran erinnert, dass „der Islam eine entscheidende Rolle im Kampf für die Unabhängigkeit spielte“. Die Armut und soziale Ungerechtigkeit im Lande geißelt Bouteflika „als die Ursache des Feuers der Gewalt“. Doch auf konkrete Fragen zu Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, wie sie trotz des handverlesenen Publikums bei den meisten Meetings auftauchten, antwortet der Präsident nur: „Ich bin nicht gekommen, um euch Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu versprechen, ich bringe euch den Frieden.“

Die meisten Menschen im Lande stört das nicht. Zu lange haben sie unter dem Krieg gelitten. Der im April bei einer von der Opposition boykottierten Wahl gewählte Bouteflika ist zum Hoffnungsträger geworden. Über 80 Prozent werden, so eine Umfrage, für seinen Vorschlag stimmen.

Die Islamisten von der FIS bis hin zur gemäßigten Hamas unterstützen die Option des Präsidenten beim Referendum ebenso wie die radikalen Laizisten der Berberpartei „Versammlung für Kultur und Demokratie“ (RCD) oder die Vereinigungen der Opfer des Terrorismus, die bisher immer nach einem unerbittlich harten Vorgehen gegen alle Islamisten riefen. Nur einige wenige melden Zweifel an – ausgerechnet aus dem Lager derer, die sieben Jahre lang vergebens für Dialog warben. So verlangt die „Front der Sozialistischen Kräfte“ (FFS) einen umfassenden Dialog aller sozialen und politischen Kräfte, um Algeriens Krise von Grund auf zu lösen statt einer verordneten Aussöhnung von oben. Doch selbst die vom Veteranen des Unbhängigkeitskrieges, Hocine Ait Ahmed, geführte FFS traut sich nicht zur Stimmenthaltung oder gar zum „Nein“ aufzurufen. Sie stellt es ihren Anhängern frei, wie sie abstimmen.

„Bouteflika macht das, was sich vor ihm keiner traute“, sagt ein Zuhörer in Setif begeistert. Er stellt sich auch als Veteran aus dem Unabhängigkeitskrieg vor. Und falls der Präsident in seiner Politik der Aussöhnung weitergehen sollte, als das Gesetz vorsieht und – wie er in verschiedenen Interviews in Frankreich bereits zaghaft angekündigt hat – auch Urheber blutiger Attentate begnadigen sollte? Kurzes Schweigen, dann antwortet sein Sitznachbar, ein Beamter auf dem Arbeitsamt: „Wir haben volles Vertrauen. Bouteflika hat einen Freibrief von uns.“