Inge Viett

Mit ihrer Kindheit bringt Inge Viett vor allem eines in Verbindung: emotionale Kargheit. Geboren 1944, wuchs sie als Vollwaise bei Pflegeeltern auf dem Land in Schleswig-Holstein auf – und wird von benachbarten Bauern missbraucht. Das Mädchen ist gut in der Schule, denn Schule ist Schonzeit. „Ich kapselte mich ein, lebte in permanenter innerer Verteidigung und Distanzierung zur Außenwelt“, schreibt sie später.

In einem „Jugendaufbauwerk“ macht sie eine Ausbildung für „frauentypische“ Berufe. 1963 nimmt sie in Kiel ein Sport- und Gymnastikstudium auf, bricht ab, verdient eine Weile Geld als Stripperin in St. Pauli, übt mit einer Geliebten bürgerliches Leben in Wiesbaden und landet schließlich in Berlin, lernt Mollis bauen und werfen, schreibt Parolen an Wände und auf Flugblätter, wird Mitglied der diffus militanten Schwarzen Hilfe. Über diese Zeit schreibt sie: „Hier löste sich meine innere Isoliertheit auf, und ich entdeckte, dass mein Zustand der Zustand meiner Generation war und dass es dafür Gründe gab.“ 1972 bringt eine Gruppe um sie einen Sprengsatz in einem englischen Yachtclub unter – als Reaktion auf den Blutsonntag von Derry am 30. Januar 1972. Ein Bootsbauer stirbt bei der Explosion.

Schließlich wird Viett Mitglied der Bewegung 2. Juni, die sich 1972 gegründet und nach dem Todestag von Benno Ohnesorg benannt hat. Inge Viett ist beteiligt an zahllosen Banküberfällen. 1972 und 1975 wird sie verhaftet, beide Male gelingt ihr der Ausbruch aus dem Gefängnis, nach der ersten Flucht taucht sie in die Illegalität ab.

1975 ist sie an der Entführung des CDU-Spitzenkandidaten Peter Lorenz beteiligt, der gegen fünf Inhaftierte der militanten Linken ausgetauscht wurde. Auch an den berühmten Schokokuss-Banküberfällen, bei denen die Bewegung 2. Juni Schokoküsse an die Kunden verteilt und 100.000 Mark erbeutet, ist Inge Viett beteiligt.

Nach der Auflösung der Bewegung 2. Juni schließt sie sich 1980 für kurze Zeit der RAF an. Nachdem sie 1981 auf der Flucht in Paris einen Polizisten schwer verletzt – der Mann ist seitdem fast bewegungsunfähig –, siedelt sie in die DDR über, die schon 1980 acht RAF-Aussteiger aufgenommen und mit einer neuen Identität ausgestattet hat. Unter dem Namen Eva-Maria Sommer arbeitet sie in Dresden als Reprotechnikerin, später in Magdeburg im VEB Schwermaschinenbau „Karl Liebknecht“ als Organisatorin für Kinderferienlager.

1990 wird sie verhaftet und zu dreizehn Jahren Haft verurteilt. Als einziges der in der DDR festgenommenen früheren RAF-Mitglieder weigert sie sich, gegen frühere Genossen auszusagen.

Im Gefängnis schreibt sie Briefe, die 1996 unter dem Titel Einsprüche! Briefe aus dem Gefängnis erscheinen, und ihre Autobiografie, die 1997 unter dem Titel Nie war ich furchtloser folgt. 1997 wird Inge Viett aus der Haft entlassen und unternimmt bald darauf eine Reise nach Kuba. Susanne Messmer