Lebenskunst, protestantisch

Was tun, wenn man nicht mehr in Revolution macht? Inge Viett, einst in der Bewegung 2. Juni, schreibt Bücher. Für ihr neuestes, „Cuba libre bittersüß“, bereiste sie Kuba. Ein angemessenes, wenn auch schwieriges Reiseziel für eine, die sich in der DDR wohl fühlte Von Susanne Messmer

Kuba ist in Deutschland zur Zeit so populär wie seit 1968 nicht mehr. Das klingende Kuba: Mehr als eine Million verkaufter Platten bescheinigen den Siegeszug des Son in westlichen Wohnzimmern, in die sonst eher Jazz und Ikea passen. Wer heute an Kuba denkt, dem fallen die lustigen Greise im Buena Vista Social Club ein. Es kommen die romantischen Ruinen von Havanna in den Sinn, das bunte, fröhliche Durcheinander der Kulturen in Trinidad, Zigarren und Zuckerrohr, überfüllte Busse, Folklore, ein charmantes Chaos. Das berühmte Poster Che Guevaras ist schon lang nicht mehr die Assoziation, die sich als Erstes bei Kuba einstellt, vierzig Jahre nach der Revolution. Auch, dass der Monatslohn des durchschnittlichen Kubaners umgerechnet wenige Dollars beträgt, dass die wenigsten wüssten, was sie essen sollten, wenn die Dollarisierung des Landes nicht längst legal wäre. Nicht mehr postsozialistisch, noch nicht halbkapitalistisch ist das Gesicht von Kuba. Schick geworden ist aber sein „koloniales Flair“.

Auch die Ex-Terroristin Inge Viett hat eine Reise nach Kuba unternommen. Soeben ist ihr Reisebericht erschienen. Doch waren es nicht die lockenden Klischees, die Inge Viett an Kuba interessiert haben. Sie wollte wissen, was von der Revolution überlebt hat. Ihr Buch ist Literatur des verlorenen Postens, der verzweifelte Versuch, ein Stück missratene Biografie zu retten: „Am Ende des Jahrhunderts ist das Erwachen bitter. Und glauben wir nun, all das, was uns im Stich gelassen hat, hier in Kuba gut vertäut wiederzufinden?“ Das ist nun nicht gerade die naheliegendste Frage, mit der man sich jetzt noch auf den Weg nach Kuba machen könnte. Und dennoch weiß ihr Buch mehr über Kuba zu berichten als Neckermann und Co.

Inge Viett, geboren 1944, zog 1969 nach Westberlin und wurde bald Mitglied der „Bewegung 2. Juni“, einer militanten Stadtguerilla in Berlin, die es auf ihrem Höhepunkt schaffte, täglich bis zu drei Banken zu überfallen und 30.000 Flugblätter in Briefkästen zu verteilen. Sie gehörte zu den Frauen, die, wäre es nach Springer und Verfassungssschutz gegangen, sofort erschossen worden wären. „Weibergewalt“, das beinahe ausgewogene Geschlechterverhältnis beim bewaffneten Kampf, das war der deutschen Wirtschaftswundergesellschaft fast das Unheimlichste an der ganzen RAF. Aber Inge Viett war anders.

Die Bewegung 2. Juni war eine nie ganz ernst genommene kleine Schwester der RAF, ihre Anführer waren Schmuddelkinder, kamen nicht wie Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin aus gutbürgerlichen Lehrerfamilien und Pfarrhäusern und erklärten sich nicht selbst zu Kadern.

Eine wie Inge Viett, die von Haus aus den Müllmann heiraten sollte, hätte in der RAF nichts werden können. Sie war fürsorglicher, geerdeter und emotionaler als ihre Genossinnen bei der RAF. Der Avantgardebegriff der RAF, ihre Kompromisslosigkeit war ihr ekelhaft, so schrieb Viett im Gefängnis in ihrer Autobiographie. Sie war eine agile Aktivistin, eine „praktische Braut“, eine gewendete Humanistin, sah sich in der Tradition der Blues-Bewegung um Dieter Kunzelmann. Zur Bedingung des bewaffneten Widerstands machte sie die Agitation und Integration der Massen. Noch heute schwärmt sie von „Energien, Hoffnungen, Romantik und revolutionärer Poesie“ dieser Zeit. Nichts mit Abgehobenheit: Das ist sympathisch, trotz allem.

Eine Formel, in die man die ganze Welt fügen, mit der man alles erklären kann – diese Sehnsucht nach Eindeutigkeit teilte sie jedoch mit der RAF, die den Bruch vollzog, als der Rest der Außerparlamentarischen Opposition ihren Frieden machte: den Marsch in die Institutionen antrat.

Es ist eine einfache Erklärung, an der etwas dran ist, zigmal durchgespielt, besonders von der konservativen Kritik: der religiöse Gestus der RAF. Mit einer „schwäbischen Ketzerin des freien Geistes, die sich mit der Warnung vor dem Jüngsten Gericht auf den Weg zur Selbstvergottung gemacht hat“ (Mariam Lau), wurde Gudrun Ensslin verglichen. Der von ihr durchexerzierte Marxismus wurde als chiliastisch erklärt, ihre Weltverachtung, ihr Verzicht auf Außenwelt als Askese und evangelische Enthaltsamkeit bezeichnet.

Auch Inge Viett mochte es karg. Ihre Auffassung vom Kampf um mehr Gerechtigkeit aber hatte mehr mit Nächstenliebe als mit Selbstvergottung zu tun. In die DDR zu gehen, das hätte weder zu Gudrun Ensslin noch zu Ulrike Meinhof gepasst. Inge Viett allerdings ist 1982 in die DDR übergesiedelt und fühlte sich wohl in der Schlichtheit einer Mangelgesellschaft, wo sich alle „ästhetischen Bedürfnisse auf die inneren Werte richten“ durften.

Als wäre sie wie Christa Wolf in der DDR aufgewachsen, verwickelte sie sich binnen kurzem in ein intimes Verhältnis zu diesem Staat, verfilzte sich wie aus Übereinstimmungssucht nach Jahren der gesellschaftlichen Isolation. „Ich war in Händen“, schrieb sie und blieb der DDR „bis zu ihrer Vernichtung“ verbunden, sowohl der Idee des Sozialismus als auch ihrer Realität, ihrer familiären Gemütlichkeit und ihren Macken, über die sie Bescheid wusste, deren Dürftigkeit sie aber als Übergangsschwierigkeiten abtat. Bekanntlich konnte in der DDR weder von Aufhebung der Arbeitsteilung noch von Mitbestimmung, gar Arbeiterselbstverwaltung die Rede sein. Inge Viett behauptet einfach das Gegenteil: „Wir kriegten unsere Aufträge und Termine. Dazwischen regelten wir alles selbst.“

Ihre Solidarität mit einem Land, in das der Kapitalismus noch nicht Einzug gehalten hat, war kindisch und charmant und ähnelt in vielem dem Interesse Inge Vietts an Kuba. Der Unterschied: Kuba kann sie nicht keusch verzichtend erleben. „Kuba ist eine Angelegenheit des Herzens“, schreibt Viett, es strotzt vor Energie und Lebenslust und wirkt so irritierend auf sie. Aus ihrer Perspektive ist verständlich, dass sie einen Ausflug ins kapitalistische Panama City so beschreibt: „Es sieht überall gleich aus. Verantwortungslosigkeit, Chaos, Entmenschlichung, Heimstätte von Ware und Geld.“ Noch immer sind die kapitalistischen Städte für sie die Hure Babylon, „von deren großer Üppigkeit die Kaufleute auf Erden reich geworden sind“, die „bekleidet mit Purpur und Scharlach, voller Greuel und Unflat ihre Hurerei“, so der Text der Johannes-Apokalypse. Was Wunder, dass sie sich erst recht in Kuba verliebt, als sie aus Panama zurückkommt: „Am liebsten hätte ich Havanna geküsst und umarmt.“ Verzicht ist ein Vorsatz, von dem sich Inge Viett verabschieden muss, um sich in Kuba wohlfühlen zu können. Vielleicht kann der Reisebericht Inge Vietts ein weiterer Ansporn werden, in Zukunft mehr über die Ästhetik der Selbstdarstellung und des Blicks auf die Welt ehemaliger Guerillos und Guerillas nachzudenken.

Wenn die Realität nicht zum eigenen Weltbild passt, wird sie zu einer reinen Frage der Ästhetik erklärt. Ein Kubaner lässt sich von so ein bisschen Konsum doch nicht verwirren!

Sich sorgen, ohne sorgenschwer sein, mitdenken, unverklemmt, selbstbewusst, voller Menschenwürde, Respekt vor dem Anderen, so beschreibt Inge Viett die Menschen Kubas und führt das auch auf die Errungenschaften der Revolution zurück: freie Bildung für alle, Kranken- und Sozialversicherung, Lebensmittelmarken garantieren noch immer einen Teil der Grundversorgung. Dennoch dämmert ihr, dass diese Unbeschwertheit und Vitalität auch eine Mentalitätsfrage ist: Dass die Armen in ihrer Not schon während der Kolonialisierung und unter Batista zusammenhalten mussten. Da ist also ein Rest, der sich den Formeln, dem Weltbild von Inge Viett entzieht. Lässig, wie sie damit umgeht.

Einmal beschreibt sie, wie zwei Jungs für sie den Reiseführer machen wollen, einer davon taubstumm „und ein bisschen wirr“. Obwohl keiner das Ziel findet, belohnt sie beide. „Der Taubstumme bedankt sich überschwänglich, und der andere, der immer im Vorteil war, lehnt dankend höflich ab. Nein, nein, ihm stehe der Lohn nicht zu, sondern dem Taubstummen, ihm sollten wir seinen Anteil geben. Was für eine rührende Überraschung.“

Susanne Messmer, 27, freie Autorin aus Berlin, Tochter „vernünftiger“ 68er-Eltern, die Gewalt für kein Mittel zur Aufdeckung repressiver Toleranz hielten. Auch sie hat nie einen Mercedes-Stern abgebrochen

Inge Viett: Cuba libre bittersüß, Edition Nautilus, Hamburg 1999, 126 S., 19,80 Mark