Schneise der Geschichte

Thomas Pynchons „Mason & Dixon“ ist ein großer Roman über die Zeit, als jene Grenze durch die USA geschlagen wurde, die später zur mythischen Schwelle zwischen Humanität und Sklaverei werden sollte  ■   Von Erhard Schütz

Wer Zugang zum Internet hat, findet unter pomona.edu/pynchon/index.html alles, was man immer schon über Thomas Pynchon wissen wollte, oder das, von dem man gar nicht wusste, dass man's nicht wusste. Für alle anderen die alte Platte, mit A- und B-Seite. Die A-Seite: Thomas Pynchon gilt als der Unbekannteste der Großen der Gegenwartsliteratur, noch unbekannter als Jerome D. Salinger. Außer dass er 1937 geboren wurde und irgendwann in seinem Studentenleben Segelohren und Hasenzähne hatte, weiß man nicht viel von ihm.

Immerhin ist noch bekannt, dass unter seinem Namen 1973 „Gravity's Rainbow“ erschien (Dt. 1981: „Die Enden der Parabel“), ein hochkomplexes Buch, von ernst zu nehmenden Menschen als bedeutendster amerikanischer Roman des 20. Jahrhunderts eingestuft, und 1990 „Vineland“ (Dt. 1993), das immerhin in die Charts kam, aber die Kritiker ob seiner vermeintlich comedyhaften Leichtigkeit eher enttäuschte. Thomas Pynchon ist, der Formel nach, der Mann für literarische Entropie und Paranoia.

Die B-Seite: Nicht mehr als fünf oder sechs Menschen auf der Welt sollen seine Identität gekannt haben, bis das Magazin New York am 11. 11. 1996 unter dem Titel „Triff deinen Nachbarn Thomas Pynchon“ einen Artikel mit Foto brachte. Nun weiß man, dass Pynchon mit Frau und Sohn in Manhattan lebt und einen weißen Schnurrbart, Brille und Jeans trägt. Nicht einmal das benötigt man, um mit der Lektüre des gerade auf Deutsch erschienenen „Mason & Dixon“ loszulegen. Zumal man dies alles und noch viel mehr allüberall lesen konnte, als der Roman 1997 in den USA herauskam. Seitdem hatte man gute Gründe zu vermuten, dass es sich nicht nur um einen vom Betrieb großgeredeten, sondern wirklich großen Roman handeln musste.

Seither wartete man sehnlichst und bang auf die deutsche Übersetzung. Sehnlichst, weil sich für mittlere mitteleuropäische Englischkenntnisse der Roman mit seinem wortspielreichen, antiquarischen Englisch des 18. Jahrhunderts auf Dauer als arg widerständig erwies. Bang, weil man sich fragte, wie man das denn auch nur halbwegs befriedigend übersetzen könne. Nun liegt das Ergebnis in einer Rekordzeit von zwei Jahren vor. Und natürlich ist man zunächst ein wenig enttäuscht, weil der lakonische Wortwitz und die so reizvolle Antiquiertheit einfach nicht 1:1 ins Deutsche übertragbar sind. Doch bliebe es bei dieser Enttäuschung, wäre es der Übersetzung gegenüber ungerecht: Sie hat Erstaunliches geleistet und einen zwar nicht ganz so hochprozentigen, aber doch kräftigen Duktus gefunden, der mehr als nur eine Ahnung vom Original gibt. Die nun etwas moderatere Altertümlichkeit hat zumindest den Vorteil, dass man das Buch zügiger lesen kann.

Das möchte man denn auch, um noch in diesem Jahrtausend mit den über tausend Seiten durch zu sein. Wer das schafft, wird ohnehin eine zweite, langsamere, grüblerische und noch genießerischere Lektüre beginnen – so vieles, das es wert ist, noch einmal nachgeschlagen und überdacht zu werden! All die Anspielungen und die Fülle an historischen (und exakten) Details! Das ist der eher selbstbelehrende Teil der Lektüre. Vorher aber hat man schon ein ungemeines, überbordendes Lesevergnügen haben können. Denn der Roman ist – bei aller ernsten Grundierung – durch und durch komisch, bietet geistreiche Dialoge wie slapstickhafte Einlagen, skurrile Einfälle wie drastische Szenen.

Das heißt, ganz so drastisch geht es auch wieder nicht zu. Denn alles, was die Basismaschinerie amerikanischer Kulturindustrie ausmacht – Sex and Crime, alles das ist abgeschwächt. Verantwortlich dafür ist die Figur, die die Geschichte von Mason und Dixon erzählt: Reverend Cherrycoke, der – angesichts seiner lauschenden Familie – auf die Dezenz des Erzählten achtet. Doch da er das mit einer Verbosität ähnlich der eines Tristram Shandy tut, und da es die Dialoge der Herren Mason und Dixon ohnehin in sich haben, wird aus den Unterbrechungen, Auslassungen, Abweichungen und Kommentaren erst recht ein Vergnügen. Unvergesslich zum Beispiel die Episode, in der die holländische Mrs. Vroom zusammen mit ihren Töchtern, die keinerlei Gewürze essen dürfen, weil das angeblich sinnlich macht, Mason hemmungslos erotisch anheizen, damit er sich anschließend über eine ihm ins Bett gesteckte, dunkle Sklavin hermache: Hellhäutige Nachkommen bringen mehr Gewinn.

„Mason & Dixon“ ist ein historischer Roman durch und durch. Er ist zum einen ein kulturhistorischer Roman, erzählt in der Weihnachtszeit 1786, über die Erlebnisse des britischen Astronomen Charles Mason (1728 – 1786) und seines Landsmannes, des Landvermessers Jeremiah Dixon (1733 – 1779). Beide haben eine für die US-amerikanische Geschichte buchstäblich einschneidende Wirkung gehabt. Sie haben nämlich in den Jahren zwischen 1763 und 1767 die Grenze zwischen den späteren Bundesstaaten Pennsylvania und Maryland festgelegt – eine nahezu vierhundert Kilometer lange Schneise durch die Wildnis, über Berg und Tal, immer strikt einem Breitengrad entlang. Für die späteren USA wurde die Mason-Dixon-Linie eine mythische Schwelle – Hauptkampflinie des Bürgerkriegs und bis heute die Demarkationslinie zwischen den früheren Sklavenhalter- und Nicht-Sklavenhalter-Staaten.

Etwa das erste Drittel des Romans widmet sich jedoch erst einmal den Erlebnissen der beiden in Sumatra und Südafrika, wo es galt, den Durchgang der Venus zwischen Erde und Sonne zu verfolgen, danach auf St. Helena, dem späteren Exil Napoleons. Ein paar Seiten raffen dann die Zeit von 1767 bis zur Erzählgegenwart, dem Todesjahr Masons, zusammen. Entsprechend enthält der Roman eine Unmenge an Informationen über Astronomie, Messtechniken und Politik, über Leben und Gebräuche und über die Biografien des Helden-Duos. Fakten und Daten von hoher Zuverlässigkeit.

Ein historischer Roman ist er aber auch in Sprache und Form, bis hin zur obligatorischen Warnung vor den Gefahren, „welche die Lektüre dieser Geschichtenbücher darstellt – vorzüglich derer, die sich 'Roman‘ nennen“. Nicht nur, dass er sich einer archaisierenden, die Eigentümlichkeiten des 18. Jahrhunderts virtuos einsetzenden Sprache bedient, sondern auch seine Form hält sich fast bis ins Parodistische mimetisch an die Eigenheiten damaliger Romane – so die ausgedehnten Konversationen (mit Vorliebe in Kneipen, den Lieblingsorten damaliger Romane) und so die unentwegten Abschweifungen. Kurz, eine ironisch balancierte Verknüpfung von Fielding und Sterne.

Selbstverständlich steckt der Roman zugleich voller Anspielungen auf Pynchons eigenes Werk und auf unsere Gegenwart. Gleich eingangs wird Bill Clintons unvergessliche Einlassung zitiert, wenn gemahnt wird, Kaffee, Tabak und indischen Hanf zu meiden. „Wenn sie Letzteres unbedingt nehmen müssen, so inhalieren Sie nicht.“ Dann wird die Pizza erfunden (Sardinen in „ketjap“ mit Stilton-Käse), die Nichtraucherecke und die Popmusik eingeführt. Doch liegt die eigentliche Verbindung mit der Gegenwart tiefer, eben im historischen Erbe, das diese heroisch aufklärerische Zeit uns hinterlassen hat.

Klar, dass die üblichen Verdächtigen nicht fehlen dürfen: nachrichtentechnisch hochgerüstete Jesuiten im Clinch mit verschwörerischen Chinesen einerseits, die Kapitalkrake Ostindien-Kompanie andererseits. Doch ist Pynchons Lieblingsthema Paranoia diesmal auf das Maß historischer Phantasmen gedämpft. Vor allem aber führt ins Erbe dieser aufgeklärten Zeiten, was zwar dem 18. Jahrhundert zugehört, uns aber so gar nicht aufgeklärt erscheinen will: Monströses, Übernatürliches, Fantastisches, Gespensterhaftes. Kurz: die Gothic-Seite des Jahrhunderts.

Eine Doublette von Vaucansons berühmter mechanischer Ente taucht immer wieder auf, stets neue Heldentaten vollbringend. Zwei Schiffsuhren unterhalten sich, vier Tonnen Gloucester-Käse büchsen aus – der Absurditäten ist kein Ende. Gleich eingangs verkündet stolz ein gelehrter Hund: „Ich bin ein britischer Hund, Sir. Mich besitzt niemand.“ Und wenn uns historische Figuren begegnen wie Dr. Johnson und Boswell auf der Reise zu den Hebriden, dann sind sie nicht ganz so, wie man sie aus dem Geschichtsbuch kennt. Benjamin Franklin trägt eine selbst gebastelte Sonnenbrille und rät reimend, niemals zum Einzelhandelspreis zu kaufen, George Washington ist ein kiffender Hanffarmer, der einen schwarzen Diener hält, sich zum jüdischen Glauben bekennt und Schweinskopf isst. Ein „herodotisches Gespinst von Abenteuern und Merkwürdigkeiten“.

Zugleich ist das ein Buch über Liebe, Freundschaft und Tod – die unstillbare Trauer Masons über den Tod seiner Frau, die Wortgefechte der beiden „buddys“: Mason, der Melancholiker, Dixon, der „unerschütterliche Sänger des Sanguinischen“, – Naphta und Settembrini als Comedy-Figuren. T. Coraghessan Boyle hat die beiden mit Don Quichotte und Sancho Pansa verglichen. Doch hat Pynchon sie gerade als eine Art „Zwillinge“ angelegt, „zueinander hin konvergiert“, eben als Kritiker der fatalen Verhältnisse von Herrn und Knecht. Vertreter einer stets zu spät gekommenen Humanität der Menschenrechte, die überall, wo sie hinkommen, der Sklaverei, „dieser alles durchsetzenden Schande“, begegnen. Sie selbst ironisieren sich als „Schneisen-Maschine“, als „Mietlinge“ von Trennungsoperationen. Ihre exakten Methoden helfen, die Welt durch Ab- und Ausgrenzungen einförmiger zu machen.

Pynchons Roman fragt nach der Konstitution unserer Kultur: Kolonialisierung und Sklaverei als immer schon vorausliegende Hypothek. Es ist rührend, aber auch ohnmächtig, wenn der Melancholiker Mason einen Sklaventreiber mit dessen Peitsche verprügelt und die Maschinen lobt, weil sie keinen Sinn für Ungerechtigkeit haben – doch selbst arbeiten die beiden an der Kolonisierung mit, der äußeren wie inneren Natur. Und die Verstrickung, zeigt der Roman gleich zum Beginn, begann viel früher: „Wir leben schließlich im Zeitalter der Vernunft, rrf ?“, spricht der gelehrte Hund.

Er weiß aber nicht nur, dass Hunde in Palmblatt eine exotische Delikatesse sind, sondern auch, dass die Menschen Hunde als Nahrungsmittel gehalten haben, bis die Hunde lernten, sich so menschlich wie möglich zu geben. Damit gibt er sich als ideeller Weggefährte des Autors zu erkennen, denn „wir bleiben schweifwedelnde Scheherezaden, die, stets nur einen Schritt vom gefürchteten Palmblatt entfernt, nächtens die Klingen unserer Herren im Schach halten, indem wir ihnen Geschichten von ihrer Menschlichkeit erzählen. Ich bin nur ein extremer Ausdruck dieses Vorgangs –“

Die Ansichten eines Hundes von der Humanität – hier werden sie, gegen den inneren und äußeren Kolonialismus – noch einmal erzählt: als Erinnerung an die Vielfalt der Welt und der Fantasie. Am Ende spricht der Hund noch einmal: „Ich bin ein britischer Hund und gehöre niemandem, wenn nicht Ihnen beiden. Wenn Sie das nächste Mal zusammen sind, werde auch ich bei Ihnen sein.“ Der Roman jedenfalls hat sie noch einmal zusammengeführt. Thomas Pynchon: „Mason & Dixon“. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt 1999. 1.023 Seiten. 56 DM