Cry-out mit Herz

■ Newcomerband-Wettbewerb zum zweiten Mal „Live in Bremen“: Sechs Bremer Bands buhlten im Pier 2 um die Gunst von Musikkennern – und Bremerhaven siegt

Boris kommt aus Hamburg. Dort macht er das „warming-up“ für TV-Shows. Zum Beispiel für „Sonja“. Er ist es, der das Publikum in Lach-Klatsch-Laune versetzt. Das ist auch sein Job während der Umbaupausen beim großen Bremer Newcomerband-Wettbewerb im Pier 2. Für ihn eher „–ne kleine Sache“. Die zappelnde Mimik unterm blonden Chaotenschopf sorgt dafür, dass man Rätselaufgaben folgenden Typs lustig findet: „Den Wievielten haben wir heute?“. Dann fragt er die Teens, warum sie hier sind. „Aus Zufall.“ „Zufall? Diese Band spielt heute nicht.“ Der Mann muss intelligent sein. Trotzdem stellt er viele doofe Wissensfragen über die ersten oder letzten Platten von ABBA und so. „Mögt ihr die eigentlich?“ Die meisten grinsen breit „Neeee, igitt“. Oha, da ist Ironie im Spiel. Aber wie? Veräppeln sich die Kids selbst oder lassen sie sich wissentlich von Boris verulken? Verdammt schwer zu verstehen, diese Jugend und ihre Unterhaltungsgepflogenheiten.

Einfacher zu begreifen ist die Musik. Alles Nachahmungstrieb. Bei vielen der rund 300 Einsendungen seien die Vorbilder durchhörbar, meint ein Jurymann. Das Niveau soll dieses Jahr niedriger gewesen sein als im letzten. So drehte die Jury bei ihren vier Marathon-Sitzungen manchmal schon nach Sekunden den Saft ab. Etwa wenn da eine Karaoke-Version Whitney Houstons, wie sie nur auf suffigen Familienfeten vorfallen kann, aus den Boxen kroch. Die regen Bremer HipHop-, Punk- und Independentszenen zeigen sich in Sachen Teilnahme leider noch spröde, meint Herr Fabsi aus der Jury. Bei der Vorstellung, sich von schnarchigen Sparkassensponsoren und vielleicht noch einem Peter Maffei als Strarjuryisten bewerten zu lassen, eingezwängt zwischen Gitarrenselbstbefriedigungssolo und Jazzrock, gruseln sie sich und werden rot. Zu Unrecht. Denn die „Live in Bremen“-Jury, Journalisten, Musiker, Plattenladenbesitzer, sind im Besitz von Ahnung und einem offenen Ohr für Experimente. Herr Fabsi vom punkigen Weserlabel ist selbst bestes Beispiel. Für „Soulmate“, Gewinner des letzten Jahres, konnten seriöse Kontakte mit dem Musikverlag von Polygram geknüpft werden.

Trotz Karaoke – mit den Siegern ist man doch zufrieden. „Silk“ aus Bremerhaven kübeln literweise Herzblut über Sätze wie „Why don't you cry out your feeling“. Ihnen selbst kann man cry-out-Mangel nicht vorwerfen. Manche Songs leiden unter wagnerianischem Dauerpathos. Die Bandabstimmung ist nicht gerade perfekt. Und das Hingetrimme der Stimme auf „Guano Apes“ und „4 non blondes“ geht nicht ohne Brüche von Statten. Und dennoch sagt wirklich jeder: Diese tolle Sängerin hat es; Charisma zum Beispiel. Bei „Missing Link“, den zweiten, dagegen ist alles perfekt. Die einzelnen Komponenten vom Mini-Rap bis Grungeröhren sind, glaube ich, besser miteinander verschweißt als früher. Und im Unterschied zu „Silk“ haben die Songs auch eine ausgefeilte Dramaturgie. Doch Herr Fabsi meint herzlos: „Kein Herz.“ bk