Du sollst Dir kein (Bühnen)bild machen...

■ Bescheiden verbirgt sich der Regisseur Martin Meltkes bei Sophokles' „Elektra“ im Schauspielhaus hinter einer großartigen Schauspielerin

Das Schöne an Mythen ist, dass sie sich im Laufe ihres langen, erfüllten Lebens vollsaugen mit einer riesigen Menge unterschiedlichster Deutungen. Hofmannsthal meinte, dass ein Mensch, der sein Leben eher hysterisch als bedingungslos einer einzigen Idee – der der Rache – unterwirft wie es Elektra tut, nach deren Vollzug gefälligst sterben sollte. Oder Sartre: Während des zweiten Weltkrieg unter dem Vichyregime befiehlt er in seinen „Fliegen“ dem Geschwisterpaar Orest und Elektra die Ermordung der Mutter und des Stiefvaters weniger aus kleinlichen privaten Rachegelüsten, sondern um einen Terrorstaat mit kollektiver Angstlähmung auszuradieren. Und wenn Elektra und ihre Schwester in einem Feuerwerk der Stichomythien darüber streiten, ob man sich nicht besser anpassen und mitmachen sollte, wo man doch eh nichts ändern kann, dann sieht man unter dem engelhaften Hängerkleid der Schwester in einer kleinen Sekunde der Augentrübung vielleicht Joschka Fischer stecken.

Auch bei Sophokles selbst lauern hinter den unauflösbaren tragischen Konflikten alternative Deutungsangeboten. Etwa in Form niederer Interessen. Warum zeigte sich einst Elektras Vater Agamemnon bereit, Tochter Iphigenie zu opfern? Wirklich nur um in einen heiligen Krieg ziehen zu können, oder weil ihn Helena lockte? Und warum tötete ihn seine Frau Klytaimnästra? Vielleicht nicht nur wegen dieses versuchten Kindsmordes, sondern weil sie einen anderen Mann im Bett wollte. Und was steckt hinter Elektras Rachedurst? Verdächtig oft jammert sie über den Verlust der eigenen Macht und Wohlstand. Beides will sie wieder haben.

Vielleicht dachte sich Regisseur Martin Meltke, dass man solche hyperkodierten Texte, die mit Deutungsnetzen umgarnt sind, am besten in Ruhe lässt. Wenn es nach ihm ginge könnte das Bremer Theater große Einsparungen erzielen, zum Beispiel durch die Abschaffung der Abteilung Bühnenbild. Ahistorisches braucht kein Bühnenbild. Elektra spricht ihren Eingangsmonolog in die Dunkelheit hinein. Ein paar Lichter an der Decke zeigen das Gewirr von Beleuchtungs-, Strom- und Belüftungssystemen: Vielleicht eine Metapher für das dichtgewebte Flechtwerk von Menschen- und Göttermetzeleien, von dem die Orest-Elektra-Geschichte nur ein kleiner Ableger ist. Das Programmheft weist gleich zu Beginn darauf hin.

An Requisiten leistet sich Meltke eine Blume, eine Videokamera und ein kleines Messer, das eher zum Brieföffnen als zum Schlachten geeignet scheint. Und natürlich dieser schwere Ledermantel. Elektra trägt ihn Jeanne d'Arc-mäßig wie eine Rüstung und legt ihn nur für den Bruder ab, oder der Schwester zwecks Bündnisbildung um die Schulter. Wenn Elektra schreit „blutrot trieft die Hand“ trieft natürlich nichts. Schließlich setzt die attische Tragödie mit ihren diversen Botenberichten auf die Kraft der Fantasie und die Magie der Stimme. Und schon sind wir bei Gabriela Maria Schmeide. Es ist absolut groß, wie sie vor Schlüsselwörtern nachsinnend zögert, den Beschwichtigungsversuchen des Chores verhalten-empört hinterher-echot, mit weggedrehten Kopf nicht Zuschauern und Chor, sondern den Wänden ihre Wut entgegenzischt und einen versöhnlichen Ton erst in der absoluten Verzweiflung findet: „Für mein Leid wird niemand eine Lösung finden.“ Und mit kleinen Restspuren sächselnden Dialekts erdet sie dieses Pathos des Hasses und vermeidet Gravitätisches.

Aber auch ihren Gegenspielerinnen gönnt die Inszenierung klassizistisches Format. Die Schwester Katrin Heller darf dem Prinzip der Einsicht in die Notwendigkeit des Kompromisses eine gewisse Würde verleihen. Und die Mutter Gabriele Möller-Lukasz ist allein schon durch ihre statuarische Haltung ungeeignet als Objekt der Verachtung.

Als Fehlbesetzung für die absolutistischen, großen Gefühle der klassischen Tragödie zeigt Meltke dagegen die Männer. Der, den Elektra als Rächer so heiß herbeisehnt, trägt mehr Gel im Haar als Größe im Herzen. Der Freund stapft in Cowboystiefel und spielt gesichtslosen Schattenmann. Wie die Mafiosi bei Scorsesefilmen oder die Anwälte bei Ally McBeal schmieden sie ihre Pläne im Klo. Und der Diener grabscht nebenbei Elektra am Busen. Matthias Kleinerts Aigistos ist als Opfer eigentlich untauglich. Mit einer Pech-gehabt-Schlurfigkeit läßt er den weihevollen Akt göttlich befohlener Rache über sich ergehen. Vielleicht ist es so, dass diese Inszenierung für eine Teilbrechung der Tragödie plädiert, sich dem hohen Ton hingeben möchte, aber eben doch nicht ganz.

Aber warum erhält das zackig durchinszenierte Stück ausgerechnet seine längste, auffallendste Zäsur beim nicht gerade wahnsinnig spannenden, wichtigen Herbeischaffen des Leichnams der Mutter? Und warum lässt die Regie in dieser mit Knarzen erfüllten Pause die Todfeinde Elektra und Aigistos einfrieren zu einem seltsamen ambivalenten Standbild irgendwo zwischen Liebe und Bedrohung. Mist, ich glaube ich habe die Inszenierung doch nicht verstanden. Bitte an die Leser: Wer dieses Standbild versteht, möge bitte schreiben.

Barbara Kern