Das Leben ist ein Fräuleinwunder

■ Sorry, Großstadt, aber dieser Ausflug könnte auch ans Meer gehen: Julia Francks Debüt „Liebediener“ ist ein Berlinroman, der ganz ohne Baustellen und Eventhopping auskommt

Beyla lebt sehr unaufgeregt in Berlin, aber sie könnte auch in jeder anderen Großstadt wohnen. Was sie von der Stadt wahrnimmt, ist die Farbe der Tram oder der Geruch von Plastik im neuen Mietwagen bei einem Ausflug an den See. Doch könnte die Tram auch gelb sein oder der Ausflug ans Meer gehen: für den zweiten Roman von Julia Franck, „Liebediener“, ist das nebensächlich.

Hier geht es um eine sehr reduzierte Dreiecksgeschichte zwischen zwei Menschen, die sich vor allem im Innern einer Mietskaserne abspielt: Als die Ich-Erzählerin Beyla eines Tages vor die Haustür tritt, wird sie Zeugin eines Unfalls, bei dem ihre Nachbarin Charlotte einem Auto ausweicht und dabei von der Tram überfahren wird. Der Fahrer des Autos bemerkt nichts und fährt weg. Niemand außer Beyla hat den Vorgang beobachtet, und sie behält alles für sich. Bei Charlottes Beerdigung wird sie auf einen Mann aufmerksam, den sie zunächst für besagten Fahrer hält. Auch Albert, so heißt er, wohnt in ihrem Haus. Während Beyla sich immer mehr in Albert verliebt und in die Wohnung Charlottes zieht, erkennt sie, dass auch Albert und Charlotte ein Paar waren.

Auch Julia Franck wirkt sehr unaufgeregt, wie sie da in einem Café im Prenzlauer Berg sitzt. Überlegt und sachte beginnt sie zu erklären, dass sie nichts hält vom Hype der „Hauptstadtliteratur“, dem Debütantenwahn um geballte Berliner Jugendlichkeit, von der Beschwörung eines neuen deutschen Fräuleinwunders. 1978 – damals war sie acht – durfte ihre Mutter als unbequem gewordene Theaterschauspielerin aus Ostberlin ausreisen. Plötzlich auf die Kleinfamilie zurückgeworfen, fühlte sich das Mädchen in Schleswig-Holstein nicht wohl. Als Dreizehnjährige zog sie wieder nach Berlin zurück – Westberlin – und wuchs weiter auf in dem Alternativmilieu, an das sie gewöhnt war: in der urbanen Boheme der DDR, zwischen Malern, Sängern, Journalisten, Oppositionellen, die sich auch im Westen neue Nischen gesucht hatten.

Oft reiste sie in den Ostteil der Stadt und fühlte sich immer anders als alle anderen Kinder. „Als dann die Mauer fiel, teilte ich gar nicht diese Euphorie. Ich sah die Lust des Ostens auf den Westen und war sicher, dass die enttäuscht werden müsste. Im Westen war der Osten auf einmal ein Abenteuerspielplatz. Auch diese Euphorie fand ich sehr seltsam, weil ich ja wusste, wie die noch vorgestern vom Osten gesprochen hatten.“

Für Julia Franck ist Berlin eine Heimat, mit der sie nicht brechen musste, die sie abgeklärt sieht und in der sie sich auskennt. Sie lebt in Charlottenburg, wo sie sich besser konzentrieren kann und wo die Mieten billiger sind. „Ich kann wirklich nicht sagen, ob ich, wenn ich in einer anderen Stadt groß geworden wäre, nach Berlin ziehen würde.“ Sie hat in Berlin anderes gefunden als Lifestyle, Amüsierkultur und Zerstreuung. Und die Auseinandersetzungen zwischen Ost und West sind ihr so selbstverständlich, dass sie auch darüber jetzt nicht schreiben muss.

Von oben betrachtet könnte man Julia Francks Haltung für ebenso konservativ halten wie ihre Literatur: In ihrem Buch kommt keine moderne Sprachkrise, keine Infragestellung von Identität, Authentizität und Präsenz, kein Zitat vor. Sorgfältig auf Spannung gehäkelt, zieht die Geschichte den Leser in sich hinein wie ein Roman aus dem 19. Jahrhundert.

Klischees finden sich auch: Beyla, das Kellerkind aus subproletarischem Milieu, hat natürlich dunkles, Charlotte, die reiche Erbin aus dem Westen, blondes Haar. Das erinnert an die Manieriertheit einer Judith Hermann, hat aber den Szeneromanen einer Tanja Dückers oder gar Alexa Hennig von Lange wenig voraus, könnte man fälschlicherweise annehmen. Auf einer anderen Ebene nämlich wird der Ton des Romans bestimmt durch eine irritierende Ungleichzeitigkeit, die seltener ist. Franck lässt Beyla ihre Geschichte erzählen, als schreibe sie sie im selben Augenblick um: Besonders, wenn sie Schreckliches ahnt, krallt sie sich an Details fest – Details, die auf diese Art monströs anschwellen, während das Naheliegendste weit weg geschrieben wird.

Als sie Charlotte sterben sieht, hält sie sie zunächst für eine fremde Frau und starrt auf ihre Schuhe. Viel später erst kommt heraus, dass diese Schuhe ihre eigenen waren, die sie Charlotte geliehen hatte. Nicht nur Beyla in ihrer Zwanghaftigkeit und Verdrängungskunst, auch die anderen Figuren sind nur so grob anskizziert, dass sie rätselhaft und faszinierend wie im Traum bleiben.

Ein spannendes, klaustrophobisches und beunruhigendes Buch hat Julia Franck geschrieben, in dem Berlin nur als Klangfarbe vorkommt. Das wird reichen, um sie auf eine sehr kleidsame Kette mit lauter jungen Berliner Autorinnen zu reihen. „Dass zur Zeit die so genannte Berlin-Literatur boomt, habe ich erst mitbekommen, als ich schon lang an meinem Buch schrieb.“ Hätte sie es geahnt, vielleicht hätte sie ihren Roman in London spielen lassen. Oder in Rom. Susanne Messmer

Julia Franck: „Liebediener“. DuMont Verlag, Köln 1999. 220 Seiten, 36 DM