Langsam werden auch wir zu Kalk

Das Zementwerk Z1 in Rüdersdorf war ein Experimentierfeld für Künstler – bis die Fördermittel gestrichen wurden. Jetzt ist das Industriegelände ein Projekt der Expo 2000: Hilft Hannover der Kunst?  ■   Von Sandra Frimmel

„Vorsicht, Erdskulpturen auf 100 Meter“, warnt ein erstes Schild. Dann verkündet ein weiteres: „Michael Matthes, Maulwurfshügel, Rüdersdorf 1998“. Trotz dieser leicht irritierenden Begrüßung beschreite ich den Rundweg des Museumsparks Zementwerk Rüdersdorf, um jenen Ort zu erkunden, an dem von 1993 bis 1997 Berliner Künstler und Architekten unter der Bezeichnung Z1 – wie ehemaliges Zementwerk 1 – ihre Ateliers eingerichtet hatten, ausstellten und Workshops initiierten.

Am Ende eines windigen Tunnels kurz hinter dem Kassenhaus eröffnet sich ein grandioser „Negativ-Abdruck von Berlin“, wie Fabrizia Morandi, Architektin in Berlin und Turin, es formuliert: ein monströses Tagebauareal, aus dem seit Mitte des 13. Jahrhunderts Kalk abgebaut wird und das als Baustofflieferant für Gesamtberlin diente und dient. Die Zitadelle Spandau, das Brandenburger Tor, Schloss Sanssouci, auch Autobahnen, Flughäfen, militärische Anlagen, die Berliner Mauer und der neue Potsdamer Platz haben sich tief in das Rüdersdorfer Gelände eingegraben und es durch ihre Entstehung zum Verschwinden gebracht. Wie Berlin in die Höhe, so wächst Rüdersdorf in die Tiefe.

Das kulissenhafte Gelände birgt unzählige verwesende Gebäude, Industrie und Installation scheinen zu verschmelzen, der rostige Seilbahnpfeiler gesellt sich beinah bruchlos neben Arbeiten Rauschenbergs und Tinguelys. An der äußersten Begrenzung des Gebietes erhebt sich schließlich die alte Schachtofenbatterie. Unwirklich streben die Backsteinschornsteine in einer langen Reihe dem Himmel entgegen, eröffnen in schmalen Schächten düstere Einblicke in den Orkus.

Auf der Suche nach dem damaligen Arbeitsort der Künstler, dem Zementwerk 1, weiche ich schließlich vom Museumsrundweg ab und schleiche verstohlen in die verwitternden Fabrikgebäude. Zementstaubberge türmen sich dort auf, der Wind dringt durch die zerbrochenen, mit Plastikplanen lächerlich abgedeckten Fenster und erzeugt ein unterschwellig wisperndes Geräusch. Von der ruinösen Weite dieser Halle hingerissen erklettern mein Begleiter und ich verbotene Treppen und Stege, die von einem Punkt unter dem Dach des Gebäudes einen unwirklichen Blick auf die Zementtäler eröffnen. Langsam werden auch wir zu Kalk, denn der Staub ist allgegenwärtig, färbt unsere schwarzen Hosen grau und die Haut weiß.

Als die DDR noch existierte, bedeckte dieser Staub das gesamte Areal. Rüdersdorf fand keine weitere Beachtung: Das Kalkmehl erstickte die Funktion als archäologisch und denkmalpflegerisch bedeutungsvolle Industrielandschaft, die dort ausgegrabenen Saurierskelette nahm niemand wirklich wahr, der Kalkstein war Ware und kein Kulturgut, erst recht keine Kunst. Doch Anfang der 90er machte die bei Berlin lebende Künstlerin Ulla Walter die Kalköfen auf dem Gelände des stillgelegten Zementwerks 1 ausfindig, die geschaffen schienen, dort eine multimediale Kunstschule einzurichten. Parallel dazu hatte Rainer Ernst, Architekt und Direktor der Kunsthochschule Weißensee, bereits einen Förderverein zur Instandsetzung des verwitternden Areals und zur Erhaltung und Vermittlung seiner denkmalgeschützten Substanz gegründet.

In der „Kathedrale des Kalks“ stellte sich Ulla Walter die künstlerische Aktion als dynamischen Teil des Projekts vor, die Arbeit der Künstlerinitiative und des Museumsparks sollten ineinander fließen. So bezogen 1993 die ersten Künstler und Architekten ihre Ateliers in der Kalklandschaft, arbeiteten mit ihren Materialien, ihrer Geschichte und Gegenwart, arbeiteten dort, wo bereits David Gilly, Karl Friedrich Schinkel und Christian Daniel Rauch tätig waren und Bauwerke errichtet hatten.

Ein Transfer des Vergangenen begann. Kerstin Baudis und Ernst Petras, Andreas Reidemeister, Uwe Walter, Rainer Görss und Mike Steiner gehörten zu den ersten Künstlern dort. Auf alle übte der Ort eine berauschende Wirkung aus. Mike Steiners Video „Rüdersdorf – Sinfonie eines Ortes“ von 1995 beispielsweise gleicht in seinen zart-maroden Drogentraumbildern und der meditativen Stimmakrobatik einem Initiationsritus für das Leben in dem Kalkgebirge, und die Werke Ulla Walters bestehen seitdem fast ausschließlich aus Kalk.

In den Jahren bis 1996 veranstaltete der Förderverein Kunstschule Z1 auch Workshops nach Ausschreibungen, die die Besonderheiten des Geländes, seine Geschichte und seine Materialien als Ausgangspunkt der künstlerischen Konzepte setzten. Während der auf zwei Wochen angelegten Arbeitsaufenthalte lebten die Künstler nahe dem Zementwerk, stellten dort ihre Werke aus. Architekten erstellten Nutzungs- und Bebauungskonzepte für das brach liegende Zementwerk, Konzerte, Filmvorstellungen und Theateraufführungen belebten die alten Hallen. „Alles war möglich, es gab keine Beschränkungen in der Größe oder der Lautstärke.“ Ulla Walters Einsatz fruchtete, viele weitere Gruppen wurden nach Rüdersdorf gezogen, doch 1997 versandeten die öffentlichen Fördermittel. Die Künstler lösten ihre Ateliers auf, die Workshops finden nicht mehr statt, das Gelände liegt brach, die Gebäude verfallen.

Allerdings wird der Museumspark als registriertes Projekt der Expo 2000 geführt, so dass sich eventuell die Möglichkeit ergibt, das Projekt Z1 in diesem Rahmen, vorerst kurzfristig, wiederzubeleben. Die Begründerin hofft auf wieder entflammtes Interesse , denn der Museumspark brauche die Kunst: „Das muss da hin. Für so viele erwies sich das Z1 als Offenbarung und idealer Arbeitsraum. Schließlich ergaben sich auch Impulse für andere, Theatergruppen, Musiker oder Studenten der künstlerischen Hochschulen.“

Um die Arbeit des Z1 vorerst wenigstens zu dokumentieren, ist derzeit die Ausstellung „Z1 – Transformation des Verschwindenden“ in der Galerie Linkstraße im Volksbankcenter am Potsdamer Platz, dem Positiv-Pendant zu Rüdersdorf, zu sehen. Auch der Förderverein Kunstschule Z1 existiert noch. Ich hoffe auf weitere Projekte im Rüdersdorfer Kalkwerk, während ich völlig von Kalkstaub eingehüllt das Gelände wehmütig durch ein Loch im Zaun verlasse.

Bis 30. 9., Galerie Linkstraße, Volksbankcenter am Potsdamer Platz, tägl. 10 bis 20 Uhr Museumspark Baustoffindustrie Rüdersdorf, tägl. 10 bis 18 Uhr