Patienten! Waren nur Patienten!! Alle!!!

Die Irrenanstalt als letzter Hort der Vernunft und der Geborgenheit: Die österreichische Schriftstellerin Dorothea Zeemann hat mit ihrem „Rapportbuch“den Roman der Zeit geschrieben, als der Wahnsinn in ihrem Heimatland politisch Methode wurde  ■   Von Elke Schmitter

Wien 1938. Umbruchzeit, Anschlusszeit: Die einen sehen das Unheil kommen, die anderen bejubeln das kommende Heil. Es gibt lebenskluge Menschen, die politisch unklug sind, sehr dumme, die Bescheid wissen, es gibt Retter aus Angst und Mutige, die viel Schaden anrichten. Das ist so im Leben und in Dorothea Zeemanns Roman, in dem auch eine Mitfühlende auftritt, die sehenden Auges blind bleibt, die Krankenschwester Leni: Sie, „die für das klar zu Tage liegende Befinden ihrer Mitmenschen so sehr viel Interesse aufbrachte, brachte für die Ursachen dieser Befinden gar keines auf. Waren nur Patienten! Alle! Ursachen nahm Leni nicht ernst. Nur Wirkungen.“

Für ihren Beruf ist das sehr gut, fürs Leben weniger. Leni ist Krankenschwester in einer Nervenheilanstalt, und da gibt es zu viele, nach deren Unglück zu fragen gar keinen Sinn mehr hat, die nur noch Mitgefühl brauchen und Medizin. Was Leni nicht begreift, aber zu spüren nicht umhin kommt, ist die Annäherung der Verhältnisse drinnen wie draußen: Der Wahnsinn hat politisch Methode bekommen, die Affekte der Nazis schaffen sich ungehemmt Raum, und deren Verfolgte verlieren darüber wenn nicht den Verstand, so doch etwas anderes, das man genauso oder mehr zum Leben braucht und in normalen Zeiten gar nicht spürt: Verlässlichkeit, ein unthematisches, niemals bewusst werdendes Vertrauen, dass der Nachbar in der Straßenbahn, der vorübergehende Passant im Dunkeln, die Hauswartsfrau nicht plötzlich anfangen, verrückt zu spielen, um sich zu schlagen, Schwächere zu prügeln.

Die Welt ist Irrenhaus geworden, und Leni und ihre Kollegen in der Anstalt bewohnen beinahe einen Hort der Geborgenheit, nur eine Schwester hängt Hitler-Bilder in jeden Raum. Doch davon abgesehen geht es ziemlich vernünftig zu, das heißt, so wie es früher auch draußen war.

Die Österreicherin Dorothea Zeemann wusste genau, wovon sie schrieb, denn wie ihre Heldin Leni hatte auch sie in einer psychiatrischen Anstalt in Wien gearbeitet. Bevor sie als Geliebte Heimito von Doderers eine eher traurige Berühmtheit wurde – eine Beziehung, der sie im zweiten Teil ihrer Autobiografie „Jungfrau und Reptil“ ein in seiner Wahrheitsliebe radikales und deshalb lange verfemtes Denkmal setzte –, hatte sie nur Weniges veröffentlicht; ihr literarisches Vermögen entfaltete sich erst spät.

Dann aber eindrucksvoll und eigenwillig: Ihr vom österreichischen Idiom geprägter Stil ist luzide und kantig zugleich, von trockenem Humor und zuweilen essayistisch. Ihr Mitleid mit einer ordinären, verlogenen Kollegin fühlt Leni „wie eine Mitschuld, andererseits war es zur Zeit nicht in der Mode, eine kleine, diebische Gesinnung einfach zu verachten. Man gab sich sorgfältig damit ab. Man versuchte, alles zu verstehen. Armut und Hässlichkeit erhoben Ansprüche und erkannten sich nicht in Demut als von vornherein durch unbegreiflichen Beschluss geschlagen.“

Ihre Personen beschreibt Zeemann mit psychologisch-analytischem Interesse; dabei gilt ihre Aufmerksamkeit weniger der gelingenden Verständigung als jenen schwer durchschaubaren Zwischenräumen, in denen Menschen aufeinander reagieren, ohne zu wissen, was sie tun. „Das Phänomen“, heißt es von einem begabten Nervenarzt, „wieso ein Mensch, der aus lauter Zerstreutheit die besten Bissen neben den Mund steckte und seit Jahren über dieselbe niedere Türstufe zwischen Küche und Zimmer stolperte, dabei gleichzeitig so scharf beobachtend fühlte, dass er akkurat jedesmal zusammenzuckte, wenn der Onkel eine Fleischfaser mit dem Finger aus den Zähnen holte oder nach der Suppe den obersten Hosenknopf aufknöpfte, machte dem Onkel Schwierigkeiten.“

Dem Leser wird die Anstrengung nicht erspart, den sezierenden Erkenntnissen Zeemanns in ihren Abläufen zu folgen, aber er wird für seine Aufmerksamkeit reich entschädigt, denn niemals ist sie umständlich aus Schrulligkeit oder rhetorischer Prunksucht – sie hält nur daran fest, dass die Kompliziertheit der Menschen sich in schlichten Hauptsätzen allein nicht abbilden lässt. Die äußere Dramatik der Umstände spielt hier nur eine geringe Rolle; obwohl die drückende und sich hysterisch verdichtende Atmosphäre in jenen Monaten der letzten Zuckungen des alten Österreich und seiner schließlichen Preisgabe ihrem Roman eine düstere Grundierung gibt, ist Zeemann weniger eine erzählende Chronistin denn eine Autorin sui generis.

Die Schauplätze des „Rapportbuches“ – die psychiatrische Anstalt, das irr werdende Wien und schließlich ein Theater als weiteres Sinnbild einer verkehrten und zugleich totalen Welt – sind dramaturgisch klug und zugleich absichtsvoll gewählt, aber in ihren anderen Werken hat Zeemann gezeigt, dass sie nicht auf die großen Themen angewiesen ist, um ihr großes Können zu zeigen. Und das liegt weniger in der Mitschrift von Ereignissen als in der kühlen Pathologie des Seelenlebens, der Qual und Peinlichkeit der innersten Erörterungen und Motive, bevor sie Stoff der Moral geworden sind. Das ist nur selten schön, dafür aber unvergesslich. Dorothea Zeemann: „Das Rapportbuch“. Roman. Suhrkamp 1999, 247 S., 16,80 DM