Innovationen auf Eis gelegt

Die Rettungsstelle im Urban ist eine der größten in Deutschland. Doch die Zukunft des Kreuzberger „Modellkrankenhauses“ ist ungewiss  ■   Von Ole Schulz

Das Urban ist ein offenes Haus. „Das war schon immer so“, sagt Oberarzt Michael de Ridder. In die Rettungsstelle komme der Alki von um der Ecke ebenso wie die türkische Mama zum Krisengespräch. „Manchmal müssen wir auch Maden aus den Beinen holen.“ Aus einem Bezirk, in dem fast die Hälfte der Bewohner Stütze bezieht, ist das Krankenhaus kaum wegzudenken. Und wenn im Sommer all die vernarbten und bandagierten Kunden des Urban vor dem Haupteingang an der Spree sitzen und in der Sonne eine Kippe nach der anderen rauchen, ist das ein umwerfender Anblick.

De Ridder arbeitet seit 14 Jahren in dem Kreuzberger Kiezkrankenhaus. Als Oberarzt in der Rettungsstelle ist der 52-Jährige mit dafür zuständig, dass rund 47.000 Erste-Hilfe-Patienten im Jahr versorgt werden – damit hat das Urban eine der größten Rettungsstellen in Deutschland. „Viele kommen zu uns wie in eine normale Arztpraxis.“ Fast die Hälfte der Patienten, ließe sich ambulant behandeln, schätzt de Ridder. Zur Station gehören auch ein psychiatrisches Gesprächszimmer und zwei, nach Geschlechtern getrennte Ausnüchterungsräume – „der für Männer ist jede Nacht belegt“.

Vor zwei Jahren war das Urban gemeinsam mit dem Krankenhaus Friedrichshain von der Gesundheitssenatorin Beate Hübner (CDU) zu einem „Modellkrankenhaus“ erkoren worden. Dass die deutschen Kliniken verkrustete Institutionen sind, sagen viele. In der Regel seien sie streng nach den Hierarchien der Berufsgruppen und nicht entlang der Arbeitsprozesse organisiert, beschreibt Christa Markl-Vieto Estrada von der Ärztekammer das Problem. „Doch solange sich die Chefärzte nicht für die Pflege interessieren, werden sie auch das gesamte System nicht verstehen“, sagt die Expertin für Qualitätssicherung.

Im Urban sollte alles anders werden – praktisch habe sich allerdings nicht allzu viel geändert, meint de Ridder. Neben dem „Zentrum für aktivierende Pflege“, wo 18 Betten für Patienten bereit stehen, die zwar kaum ärztliche Betreuung, aber dafür umso mehr Pflege benötigen, war auch geplant, die Rettungsstelle zu entlasten. Schon seit Jahren ist der Ersten-Hilfe eine Aufnahmestation angegliedert, in die jene Kranken – meist direkt von der Rettungsstelle – kommen, bei denen nicht ganz klar ist, ob eine Einweisung nötig ist. Innerhalb kurzer Zeit wird hier darüber entschieden, ob der Patient im Krankenhaus bleiben muss oder ambulant weiter behandelt werden kann.

Das im Rahmen des Modellvorhabens vorgesehene „Zentrum für Aufnahme und Diagnostik“ wollte diese Arbeitsteilung aufgreifen: Praktische Ärzte sollten neben der Rettungsstelle im Erdgeschoss die Patienten übernehmen, die nur kleinere Wehwehchen haben. Dafür sollte die Kassenärztliche Vereinigung mietfrei Räumlichkeiten bekommen. Doch das Vorhaben scheiterte am Geld: Über eine Million Mark hätte die Ansiedlung niedergelassener Ärzte im Urban gekostet – „das können wir uns nicht leisten“, sagt de Ridder.

Als Anfang des Jahres auf Druck der Krankenkassen weitere Sparmaßnahmen beschlossen und der Krankenhausplan 1999 verabschiedet wurde, haben sich die Vorzeichen für das „Modellkrankenhaus“ erneut gewendet: Seit 1997 sind 300 der insgesamt über 800 Betten abgebaut worden. Jetzt fürchten die über 1.500 Mitarbeiter um ihre Arbeit – auch wenn Gewerkschaften und Senat vereinbart haben, dass es in den städtischen Häusern keine betriebsbedingten Kündigungen geben soll. Was aber „sozialverträglicher Stellenabbau“ genannt werde, könne etwa im Falle einer Krankenschwester in den Fünfzigern zu einer „kleinen persönlichen Katastophe“ werden, wenn sie auf einmal ganz woanders arbeiten muss.

Bereits ab Januar 2000 soll das Urban nun mit dem Krankenhaus Friedrichshain zusammengelegt werden. Die größere Klinik im östlichen Nachbarbezirk wird dann zum Mutterhaus, das Urban zum kleineren Partner degradiert. Wie die Fusion ablaufen soll, sei in vielen Fragen noch unklar, so de Ridder. Sicher ist, dass wegen der finanziellen Notlage im Urban andere Modellprojekte auf Eis gelegt werden mussten – etwa die engere Kooperation zwischen der Pflege im Haus und den ambulanten Diensten. Dabei biete gerade eine Vernetzung vom stationären und ambulanten Sektor die Chance, „überflüssige“ Mitarbeiter weiter zu beschäftigen, glaubt de Ridder. „Wir sind auf dem Weg in eine geriatrische Gesellschaft – der ganze Bereich der personalintensiven Pflege wird größer werden.“

Dass das „Bettenüberangebot“ in den Berliner Krankenhäusern die Krankenkassen finanziell überfordere, davon ist auch de Ridder überzeugt. „West-Berlin war ein Subventionsparadies, und die Kliniken im Ostteil haben das Hinterland mitversorgt“, erklärt er die Misere. Von der derzeitigen Tabula-rasa-Politik hält er aber nichts. „Krankenhäuser und Abteilungen, die keine Lobby haben, werden einfach geschlossen.“ Rückblickend müsse man in Frage stellen „ob es mit dem Modellprojekt wirklich ernst gemeint war, oder ob es nur darum ging, Geld zu sparen“. Dass das Urban nicht zuletzt auch eine sozial wie politisch „stabilisierende Institution“ sei, sagt de Ridder, „das hat der Senat nie gewürdigt.“