Völlig losgelöst

Es lebe das Mysterium: Willy Decker inszeniert „Pelléas et Mélisande“ an der Staatoper  ■ Von Dagmar Penzlin

Will Mélisande sterben? Eigentlich weiß sie doch gar nicht, was der Tod ist? Aber warum drückt sie Ehemann Golaud dann wiederholt das Schwert in die Hand? Fragen über Fragen wirft die Neuinszenierung von Claude Debussys Pelléas et Mélisande auf, die jetzt an der Staatsoper Premiere hatte. Regisseur Willy Decker ist das Kunststück gelungen, dem Werk seinen schwebend rätselhaften Charakter zu bewahren und trotzdem dem Publikum dank seiner spannungsreichen Personenregie Schneisen durch das Dickicht des Mysteriums zu bahnen.

Deckers Mélisande ist keine reine Femme fragile, keine nur zerbrechliche Kindfrau. Wie ein gehetztes Tier tappt sie immer wieder hektisch durch die großen, eisig gekühlten Räume (Bühnenbild: Wolfgang Gussmann): heimatlos, ziellos. Diese Orientierungslosigkeit treibt sie in die Ehe mit Golaud und schließlich in die Arme von dessen Bruder, Pelléas. Oder ist es Liebe? Oder Lebensmüdigkeit? Glücklich macht sie jedenfalls keiner der beiden Männer, daran lässt die Inszenierung keinen Zweifel. Selbst Pelléas, der ihrer Wesensart näher kommt als Golaud, bleibt gefangen in seinen Projektionen auf Mélisande. Beeindruckend zeigt dies die Turmszene zu Beginn des dritten Aktes: Statt der üblichen rapunzellangen Haare trägt Mélisande einen überdimensionalen Schleier. In diesen wickelt sich Pelléas gänzlich ein, ungeachtet ihrer Klage, dass er ihr weh tue.

Und mehrmals handelt die Mélisande dieser Inszenierung plötzlich außergewöhnlich entschlossen. So beispielsweise am Ende der zweiten Szene des vierten Aktes: Nachdem Golaud sie misshandelt hat und Mélisande eben noch gebrochen am Boden lag, rafft sie sich auf, geht auf ihn zu, greift sich das Schwert und legt es dem Gatten mit Nachdruck in die Hand, während sie ihm unverwandt in die Augen schaut. Diese Schlüsselszene taucht die darauf folgende nächtliche Begegnung zwischen Mélisande und Pelléas in ein anderes Licht: Trotz Liebesgeständnis bleibt die Distanz zwischen beiden groß, Mélisande scheint nur auf Golauds Auftritt mit dem Schwert zu warten.

Deckers Personenregie wagt den hochpsychologischen Drahtseilakt durch das symbolistisch aufgeladene Fin-de-Siècle-Werk, ohne sein Geheimnis, seine Rätsel psychologisierend einzustampfen. Gussmanns Bühnenbilder sorgen gleichsam präventiv für eine losgelöst surreale Atmosphäre ohne Bodenhaftung. Ganz offensichtlich stand René Magritte Pate: Elemente aus seinen Bildern tauchen auf. So schwebt beispielsweise ein riesiger Apfel über der Szenerie, oder Männer im schwarzen Anzug mit Bowler treten auf. Egal, wo die Szenen spielen, ob vor einem Rundbogen oder in einer Art riesigem Wintergarten, immer bleibt ein großes, dunkles Brunnenloch in der Mitte der Bühne bestimmend und damit das Wasser als zentrales Motiv des Stücks.

Ebenso wie Inszenierung und Ausstattung überzeugte das Dirigat von Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher: Durchhörbar und farbenreich im Klang, gelangen seinem Philharmonischen Staatsorchster äußerst differenzierte dynamische Abstufungen. Nur manchmal schien der Hang zum Dramatischen mit Metzmacher durchzugehen, was Debussys Musik stellenweise eine ungewohnte Aufgeregtheit verlieh.

Ein überaus bemerkenswertes Rollendebüt gab Gabriele Rossmanith als Mélisande. Für die Sopranistin scheint diese Partie sowohl stimmlich als auch optisch wie maßgeschneidert. Nicht weniger begeisterte Russel Braun als Pelléas mit tenoralem Schmelz und Mut zu zarten Farben. Jean-Philippe Lafont ist ein stimmlich solider, teilweise etwas gepresst klingender Golaud. Im Gedächtnis bleibt seine intensive Darstellung von Golauds vergeblicher Suche nach greifbaren Antworten, nach Fakten, die sich zu einer Wahrheit fügen könnten. Auch wir, die Zuschauer, bleiben wie Golaud zurück: mit einer langen Liste von Fragen und ohne Aussicht auf eindeutige Antworten. Es lebe das Mysterium!

29. September, 2., 5., 8., 10., 14., 17. Oktober, 19 Uhr