Eurobörse kommt – virtuell

■ Die Acht-Börsen-Allianz wird nur über Schnittstellen arbeiten. Druck aus den USA

Frankfurt (taz) – In 14 Monaten sei es den acht führenden Börsen in Europa nicht gelungen, „der Lady die Kleider auszuziehen“, höhnte der Economist noch Mitte September. Britischer Humor, der den Lesern auf der Insel (Euro-freie Zone) sagen sollte: Das Projekt Eurobörse kommt nicht in die Gänge. Und das sei „gut so“, denn alleine schon die bereits praktizierte engere Zusammenarbeit zwischen den Börsen in Frankfurt und in London sei kontraproduktiv gewesen – „für London“. Euroskeptizismus pur, dem die Börsen in Europa gestern die Ankündigung der Allianz und die Installation eines entsprechenden Systems für den 1. November 2000 entgegensetzen. Im Schulterschluss mit der Börse in London.

Zur Allianz gehören neben Frankfurt und London die Börsen in Amsterdam, Brüssel, Madrid, Mailand, Paris und Zürich – mit Ausnahme von London und Zürich alles Börsenplätze in Euro-Ländern. Das Marktmodell für die elektronische „Eurobörse“, in der 300 europäische Spitzenpapiere, sogenannte Blue-Chips, gehandelt werden sollen, haben die Börsen in Frankfurt und London entwickelt. Schnittstellen sollen die unterschiedlichen elektronischen Systeme miteinander vernetzen.

Der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Börse AG, Reto Francioni, sagte, die Eurobörse werde ein bahnbrechendes „paneuropäisches Angebot“ für Anleger und Wertpapierhändler in ganz Europa werden. Das neue System biete mehr Wettbewerb, verringere die Transaktionskosten, minimiere die Systemkomplexität, verbessere den Investorenschutz, stärke die Integrität des Marktes und erhöhe die Liquidität.

Weil sich die Beteiligten auch auf das „System Eisberg“ verständigt haben, wonach Aktienkäufer an der „Eurobörse“ nicht ihre gesamten Orderwünsche anmelden müssen, sondern nur einen Teil davon, würde feindlichen Übernahmen Tür und Tor geöffnet, befürchten Kritiker vor allem aus den Chefetagen der Banken. Und auch Kursmanipulationen seien möglich – die Installation einer strengen Börsenaufsicht halten die Initiatoren der Eurobörse nämlich für überflüssig. „Der Markt“ (Franconi) soll es regeln.

Deutsche-Bank-Chef Rolf E. Breuer will aber nicht noch länger warten.Er kündigte an, sich an der neuen elektronischen US-Handelsplattform Tradepoint zu beteiligen. Wenn US-Banken darüber europäische Aktien handelten, müsse das auch umgekehrt möglich sein – ab sofort. Eine richtige Eurobörse, ein neuer Handelsplatz, werde da im nächsten Jahr ohnhin nicht entstehen: überall nur „elektronische Schnittstellen“. Aber die europäischen Banker stehen unter Zeitdruck: Führende US-Banker haben sich zu Wort gemeldet. In nur einem Jahr könnten sie eine Eurobörse aus dem Boden stampfen, wenn sie wollten – drei Monate vor Eröffnung der virtuellen „Schnittstellen-Eurobörse“.

Klaus-Peter Klingelschmitt