„Ich verachte dich, du Intellektueller“

Zhou Chun war der Dolmetscher von Mao und am 1. Oktober 1949 auf dem Platz des Himmlischen Friedens bei der Gründung der VR China dabei. Zhou lebt seit 1988 in Berlin und besuchte nun erstmals wieder Peking. Eine Reise  ■ von Zhou Chun

Peking rückt immer näher. Das Flugzeug von Air China soll bald landen. Ein quasi unlösbares Band verbindet mich mit dieser Stadt. Nach zwanzig Jahren komme ich zurück, um herauszufinden, wie China sich verändert hat. Es heißt doch: „Einmal sehen ist besser als hundertmal hören.“ In kaum einer anderen Stadt sind so viele meiner Erinnerungen begraben – süße und bittere, hoffnungsvolle und verzweifelte. Fast habe ich Angst zurückzukehren und alte Wunden wieder aufzureißen.

Allein immer wieder diese Reisen von und nach Peking: Schon vor der Gründung der Volksrepublik hatte mich das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei per Telegramm von der Mandschurei, wo ich als Englisch-Radionansager arbeitete und die Welt durch meine Stimme die Schritte der chinesischen Revolution hörte, in das friedlich befreite Peking bestellt. Ich sollte die Gründung des Außenministeriums mit vorbereiten und zunächst die Renovierung des Gebäudes beaufsichtigen. Später war mein Vater so stolz auf seinen zweiten Sohn, der zwischen dem „Großen Führer“, dem Vorsitzenden Mao Tse-tung, und dem „verehrten und beliebten“ Premier, Zhou Enlai, sitzen und für sie dolmetschen durfte. „Und in zwei Sprachen – Englisch und Deutsch!“, wie mein Vater nie zu erzählen vergaß.

Sehr lange hat dieser Ruhm für die Ahnen nicht gedauert: 1955 wurde ich mit vielen kompetenten, aber nicht gehorsamen Kollegen bei der „Aktion für ein schlankes Ministerium“ versetzt. Mein Vater hat geweint und geweint, aber das war nur der Anfang meines Verhängnisses. Denn im Literaturverlag folgte ich Maos Aufruf zur Kritik an der KP und wurde deswegen 1957 als „Rechtsabweichler“ oder „Anti-Partei, Anti-Volk und Anti-Sozialismus-Element“ eingestuft und bestraft. Der „Rechtsabweichler“ musste ein Papier unterzeichnen, das bestätigte, dass er ein solcher war. Am Vorabend des Neujahres 1965 wurde ich dann in Handschellen aus der Hauptstadt verbannt – wegen „Verweigerung der ideologischen Reform“ und „Klassenrache“. Ja, mein Vater war ein Kleinunternehmer. Aber er hatte der KP alles geschenkt: drei Kinder, die alle freiwillig ihr Studium unterbrachen, um für die KP zuerst gegen die Japaner und dann gegen die Kuomintang zu kämpfen. Rache von wem gegen wen?

Aus den langen Jahren der Übermüdung und Unterernährung in Gefängnissen und Zwangsarbeitslagern hat sich mir das zornige Gesicht eines Lagerbeamten und sein auf mich gerichteter Zeigefinger eingeprägt. „Ich ver-ach-te dich, du Intel-lek-tu-el-ler!“ Der Richter, der dann später den „Fehler“ korrigieren sollte – also nicht einmal richtig rehabilitieren –, sagte nach 22 Jahren der Demütigung zu mir: „Genosse Zhou, du bist gesetzlich nie bestraft worden. Das war eine ereignislose Periode für dich. Merke es dir!“

Aber immerhin konnte ich als freier Bürger wieder nach Peking, um Formalitäten zu erledigen, darunter wieder ein Papier zu unterzeichnen, dass ich doch kein Feind der KP gewesen bin. Es war nur eine Durchreise, denn ich wollte nicht mehr in Peking leben, sondern in Schanghai, nahe bei meinen greisen Eltern. Aber die Albträume kannten keinen Unterschied zwischen den beiden Städten. Sogar die Zahl 145 – einst meine Häftlingsnummer – ließ mich nicht in Ruhe.

Zwanzig Jahre später fliege ich von Berlin nach Peking. Manche deutschen Freunde können es nicht verstehen, dass ich trotz alledem mein Land noch immer so innig liebe. Manche sind sogar empört und kritisieren mich, dass ich zu „pekingnah“ oder „parteikonform“ sei. „Warum hat er so viel Angst? Warum kann er nicht kritischer sein?“, fragen sie. Angst hatte ich früher, jetzt nicht mehr. Und kritisch bin ich, wenn es sein muss. Mein Land hat mir nie etwas angetan. Die Politiker kommen und gehen, aber das Land und das Volk bleiben. Für die Entstehung der Volksrepublik habe ich mitgekämpft. Warum soll ich sie nicht lieben, zumal wenn sie nach einem langen Irrweg der Selbstzerfleischung mit riesengroßen Verlusten an Menschenleben und Zeit endlich den Weg zum Wiederaufbau des Landes eingeschlagen hat?

Als ich an einem Frühstücksstand in einem typischen Pekinger Gässchen den ersten Schluck Sojamilch trinke, schießen mir die Tränen in die Augen. Langsam kehrt alles wieder zurück – das vertraute Straßenbild der Altstadt, der „ölige“ Dialekt der Pekinger, die Kleinhändler, die ihre Waren mit lautem Singsang anpreisen, die älteren Männer, die mir ihrem Handkarren Altpapier, Trödel und Kram sammeln, und nicht zuletzt die niedrigen, schäbigen Häuser mit ihrem kleinen viereckigen Hof, wo drei, vier oder noch mehr Haushalte auf engstem Raum zusammen leben und sich eine einzige Wasserleitung im Hof und ein Loch im Boden als Toilette teilen müssen. Sehr viel hat sich nicht verändert, denke ich und vergesse für einen Moment, wie fremd mir die Stadt bei ihrer Ankunft erschien.

Peking begrüßte mich mit einer Dunstglocke. Der Weg vom Flughafen in die Stadt war mir völlig fremd – neue Straßen, neue Hochhäuser, leider nicht alle nach meinem Geschmack. Peking war einmal eine angenehme, ruhige und saubere Stadt, aber jetzt ist es überall furchtbar laut und hektisch. Früher gab es architektonisch noch eine Harmonie, auch wenn es eine Harmonie einheitlicher Armut war. Jetzt scheint jeder, der Geld hat, beliebig Hochhäuser bauen zu dürfen. Ein Gesamtkonzept gibt es scheinbar nicht. Die unchinesischen Gebäude stehen jedes für sich da – hässlich und banal. Auf der anderen Seite freue ich mich zu sehen, dass Geld da ist, und das nicht nur bei den Städtern, sondern auch auf dem Land. Meine Landsleute sind wirklich reicher geworden, sie essen auch viel besser. Sogar Obst scheint schon zum Menü vieler Chinesen zu gehören.

Von der Kleidung der Chinesen sind auch die Flicken verschwunden, sogar bei den Bettlern. Als ich jetzt einen alten Bettler in einem Tunnel im Stadtzentrum Pekings sah, hielt ich inne. Denn am Anfang der Volksrepublik waren alle Bettler und Prostituierten aus den Straßen verschwunden. Jetzt sieht man sie wieder. Dazu noch Glücksspiel, Drogen, Diebstahl. Die Übel der alten Gesellschaft, die mit der Befreiung des Landes abgeschafft worden waren, sind heute alle wieder da! Haben wir umsonst gekämpft? Und die Korruption, besonders der „Prinzen“ genannten Kinder hoher Kader, ist heute weit verbreitet. Das Volk hasst sie und schimpft.

Ich bin erstaunt, wie offen die Chinesen heute ihre Meinung sagen. Sie scheinen keine Angst mehr zu haben. Eine alte Nachbarin sagt zu mir: „Jetzt dürfen wir alles sagen – so lange wir nicht auf der Straße die KP beschimpfen.“ Sie hat Recht. Ich höre Menschen Dinge sagen, die sie vorher als „Rechtsabweichler“ oder „Konterrevolutionäre“ eingestuft hätten. Doch andererseits hat mich ein alter Kollege nicht einmal zu sich eingeladen, obwohl ich ihm am Telefon zweimal deutlich gesagt hatte, dass ich ihn gern wiedersehen würde. Er wusste, dass ich einmal „Feind der KP“ war und jetzt in einem kapitalistischen Land lebe. Hatte er Angst?

Fremd ist mir Peking nicht nur, weil sich das Stadtbild sehr verändert hat, ich das Gebäude des Außenministeriums und des Literaturverlags nicht mehr finden kann. Ich werde auch immer wieder an die Kolonialzeit erinnert. Diese demütigende Periode ist mir sehr gut bekannt, weil ich in dieser Zeit in der französischen Konzession in Schanghai geboren wurde. Ich sehe während meiner Reise sehr oft das Gegenteil der Zeit unter Mao. Heute scheinen alle Kleinhändler das Fremdwort „Hallo!“ gelernt zu haben, um ihre Waren den Lao Wai, den Langnasen oder fremden Teufeln, zu verkaufen. Die jungen Leute interessieren sich für alles, was ausländisch ist: eine Mahlzeit bei McDonald's oder Kentucky Fried Chicken, Discos oder Karaoke-Bars. Im Beihai-Park sehe ich mehr als zehn junge Brautpaare in spanischer oder amerikanischer Tracht, die sich vor einem Auto aus den 20er-Jahren fotografieren lassen. Die Strecke zwischen Dongdan und Dongsi, die ich früher sehr gut kannte, sieht heute aus wie irgendeine Straße in Hongkong. Fast nur ausländische Laden- und Warennamen, die Schaufensterpuppen haben blonde Haare und blaue Augen. Solche Erscheinungen waren zu Beginn der Volksrepublik mit der Entkolonisierungsaktion verschwunden.

Ich nehme Abschied von Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Auch er erscheint mir fremd. Doch ich finde eine Stelle, wo ich wohl am Vormittag des 1. Oktober 1949 gestanden habe, ziemlich nahe des Torturms, wo Mao in seinem schweren Hunan-Akzent mit den Worten „Das chinesische Volk ist aufgestanden“ eine neue Republik des Volkes ausgerufen hatte. Ich denke an die Euphorie, an die Aufbruchstimmung des Volkes in den „Goldenen Jahren“. Meine Gefühle sind gemischt. Wir können stolz sein, dem alten China ein Ende gemacht zu haben. Die Zeit, wo wir Chinesen als Sklaven der Sklaven im eigenen Land leben mussten, ist vorbei. Aber damit endete auch schon mein Traum von einem neuen China. Danach folgten für viele Menschen Enttäuschung und Desillusion. Ich musste die Blütezeit meines Lebens vergeuden. Hoffen wir, dass wir unsere Lektionen gelernt haben, dass die junge Generation klüger ist. Der Traum aller Chinesen von einem starken Land und einem reichen Volk wird Wirklichkeit. Peking, du darfst nicht versagen, denn an dir hängt das Schicksal einer großen Nation. Mein Blick wird trübe. Der Tiananmen-Torturm mit Maos Bildnis scheint in die Ferne zu rücken. Ich taste nach einem Taschentuch, doch ich muss es irgendwo verloren haben.

Zitat:Der Weg vom Flughafen in die Stadt war mir völlig fremd – neue Straßen, neue Hochhäuser, leider nicht alle nach meinem Geschmack