Wir beleidigten Leberwürste

Achtung: Es folgt ein Angriff. Auch auf die Menschen in den neuen Bundesländern. Auf die in den alten Bundesländern sowieso. Weil die deutsch-deutsche Debatte zehn Jahre nach dem Mauerfall keine ist. Im Westen herrscht Schweigen, und im Osten dominiert das Selbstgespräch. Und weil sich genau deshalb nie etwas zu ändern scheint im Verhältnis zwischen früherer DDR und klassischer BRD. Deshalb also ein Stück zum Lachen und eine Polemik gegen die obligatorischen Wendefeiern Von Andreas Lehmann

Nicht wenige Westmenschen verspüren ein starkes Bedürfnis nach Spaß. Ihr Leben muss nicht unbedingt eine Lust sein, Hauptsache es ist lustig. Leider fällt die Veranstaltung der deutschen Einheit nicht in diese Kategorie. We are not amused, heißt es da, oder – um es westdeutsch zu formulieren – einfach nur: „Schluss mit lustig“. Das Elaborat, aus dem diese putzige Passage stammt, heißt „Knigge für Deutsche: Über den Umgang mit Westmenschen bzw. Ostmenschen“, erschien kürzlich in einem sachsen-anhaltischen Verlag und ist ein famoses Exempel für die geistigen Zumutungen östlicher Zuträger im deutsch-deutschen Diskurs, denen man mehr und mehr ausgesetzt ist: quengeliges Geraune Made in neue Bundesländer, das komisch sein will und mit dem man beabsichtigt, dem Westen zu widerstehen.

Allerdings weiß man nicht so recht, wie und warum, übrig bleibt allein der Unterton: pubertäre Trotzigkeit gemischt mit der umwerfenden Komik von Amateurkabaretts der späten DDR, wenn es ums Feindbild – den Westen – geht oder um das Selbstbild – den Osten. Stichwort „Arbeit“: „Im Osten haben sie die Arbeit nicht erfunden. Dieser slawische Schlendrian sitzt einfach zu tief drin. Deshalb war es auch richtig, dass ein großer Teil der Ostdeutschen überhaupt gleich ganz aus dem Arbeitsleben rausgenommen wurde, bevor sie noch den Westen infizieren.“

Selten so gelacht. Der Osten hat sich zurückgezogen und eingebunkert. Längst vorbei die Zeiten, als man sich noch für die Menschen jenseits der Grenzlinie interessierte und nicht nur für renovierte Stadtquartiere, in denen wenigstens noch trockene Witze über den Westen gerissen wurden („Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist es andersrum“). Vorbei die Litanei vom auf Befindlichkeitsgetue machenden Biografienerzählen. Aber was sollte Wolfgang Thierses gut gemeinte Idee dem aufgeschlossenen Westmenschen an großartiger Erkenntnis schon bringen: dass man im Osten mit den „Digedags“ auch seinen Comic hatte? Dass „Bambina“ eine tolle Schokolade war – nebenbei: die nicht zu vergleichen ist mit der heutigen Version, versteht sich? Dort „Die Sendung mit der Maus“, Kinderschokolade und Konfirmation hier, ätsch-bätsch, „Professor Flimmrich“, Vita-Cola und Jugendweihe dort? Kinderkram. Das interessiert doch keinen. Zumal einem andererseits der Lebensweg des Landsmannes aus Wuppertal am Arsch vorbeigeht. Wie soll so eine gepflegte Unterhaltung entstehen?

Jeder Fünfte im Westen und vierzehn Prozent im Osten wollen die Mauer wiederhaben. Nicht nur, dass nach diversen Umfragen in München, Hamburg und Düsseldorf immer noch die schicksten, in Leipzig und Dresden dagegen die schlampigsten Bundesbürger wohnen. Die deutsch-deutsche Debatte zehn Jahre nach Mauerfall und „Wahnsinn, Wahnsinn“-Gebrüll ist Selbstgespräch – im Osten – und Schweigen – im Westen oder Ignoranz mit der irrtümlichen Erkenntnis, Ost-West sei kein Thema mehr. Die standardisierte Sprachregelung dafür heißt: Die Mauer in den Köpfen steht noch, und zwar bei weit über zwanzig beziehungsweise vierzehn Prozent der Deutschen.

In den Redaktionsstuben, Politikzirkeln und an den Stammtischen wird eifrig, aber hübsch hinter vorgehaltener Hand jedes Ressentiment gepflegt, vor allem im Osten. Jeder selbstkritische Gedanke wird reflexartig abgeschmettert mit dem Verweis auf die nicht feinere Moral des neuen Systems und seiner gelernten Demokraten (wobei das Wort „Demokraten“ langsam und in Anführungsstrichen gesprochen wird). Wer das anders sieht, wird umgehend zum Verräter an der ostdeutschen Sache.

Aber was ist schon die ostdeutsche Sache? Im Osten ist, abgesehen von einer über den Dingen stehenden Spezies wie Angela Merkel, Durs Grünbein oder Matthias Sammer, die Mehrheit – auch die Mehrheit der „unverbrauchten“, hedonistischen Generation – vor allem mit sich selbst beschäftigt. Es kommen von hier so gut wie keine relevanten Beiträge, wenn es um Holocaust und „Dauerpräsentation der Schande“, Sloterdijk und Genetik, „Clash of Civilizations“ oder Freiheit und Internet geht. Sicher hat es auch damit zu tun, dass in den medialen Schaltstellen der Republik der Westen festsitzt und der Osten in Talkshows oder Leitartikeln lediglich als Quote geduldet oder – wenn er selbst zum Objekt wird – zur Selbstverteidigung zugelassen wird. Immer gern genommen werden dann Richard Schröder, Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer, in der gehobeneren, intellektuelleren Klasse Wolfgang Engler oder Christoph Dieckmann.

Andererseits hat man im Osten auch dazugelernt: zum Beispiel Begriffe zu besetzen. Die PDS etwa, nicht nur selbst ernanntes, sondern auch von nahezu allen jungen, intellektuellen Ost-Twenty- und -Thirty-Somethings als Sprachrohr der „neuen Länder“ akzeptiertes Gebilde, wirbt jetzt im Berliner Wahlkampf damit, dass man die Verhältnisse zum Tanzen bringen werde. Nun ist zunächst nichts dagegen einzuwenden, dass auch ehemalige Mitarbeiter der bewaffneten Organe und Mitglieder von allerlei Kreis- und Bezirksleitungen auf Straßen und Alleen verrückt und ausgelassen tanzen. Fragt sich nur, zu welchem Sound: zu Bob Dylan, zu seinem The times they are a-changin'?

Noch mehr darf man gespannt sein auf die umwerfende, umstürzende Party aus Fröhlichkeit und Revolte, organisiert von der ästhetischen und politischen Avantgarde aus, sagen wir, Berlin-Hellersdorf. Wie wollen sie das machen, und was wird dabei rauskommen? Das einzige Mal, dass der Osten während der letzten zehn Jahre tatsächlich auf die Barrikaden ging und ein gesamtdeutsches Zeichen setzen wollte, war doch ein klar kapitalistisches: die Ladenöffnungszeiten am Sonntag. Ist es nicht erstaunlich, dass man es im Osten nicht schafft, die ja reichlich vorhandene Kohle in der Woche auszugeben, und den Sonntag braucht, um in Ruhe shoppen gehen zu können? Kategorien und Kontexte geraten pausenlos durcheinander.

Um beim Thema zu bleiben und nicht wieder nur auf der kleinen, gebeutelten Partei der demokratischen Sozialisten rumzuhacken, nehmen wir zur Abwechslung mal Manfred Stolpe. Als „Anwalt der Ostdeutschen“ empfahl er sich den Wählern; nur er könne für die schlussendliche Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West sorgen. Was denn nun? Will man also die ostdeutsche Volksgruppe verteidigen und ihre spezifische Lebensart – wie auch immer die aussehen mag – schützen oder das westliche Dasein eins zu eins leben dürfen? Was will der Anwalt, was wollen die Klienten?

Kein Wunder, dass mit diesem grundsätzlichen Kuddelmuddel der Westen nichts anfangen kann. Der Widerspruch zwischen Anspruch und Realität ist es, der dem Osten zu schaffen macht und den der Westen zunehmend verständnislos und schweigsam erträgt. Gegen den kalten Kapitalismus wettern, aber sich immer häufiger den Kopf zerbrechen, in welchem Aktienfonds man seine Märker anlegt. Den urigen Bulgarienurlaub aus vergangener Zeit preisen und sich heute in Paris breit machen. Vorruhestand kassieren, Kadett fahren und höhnisch und hysterisch über die versprochenen „blühenden Landschaften“ bellen. Im Szenecafé im Szeneviertel Cappuccino kübeln, sich über die vorbeifahrenden Touribusse echauffieren, aber beim nächsten Trip nach New York die Lower East Side durchkämmen, in Jerusalem Mea Shearim durchwühlen und in London fieberhaft nach dem hippsten Club der Eingeborenen fahnden.

Selbstverständlich gibt es den einfallenden, frechen, selbstverliebten Schnösel West, der gleich mit komplettem Hausrat im Osten anrückt. Ein Exemplar, das zunächst sprachlos macht. Dessen Wohnungsgesuch einem Diktat gleichkommt, fordernd und angeberisch mit dünnem Englisch versetzt: I want your flat. Ein bis zwei Zimmer mit Balkon, Flügeltür, abgezogenen Dielen. Andererseits möchte der Ostler auch so eine Wohnung; er kriegt bloß den Mund nicht auf, und deshalb bekommt er auch nicht das flat mit Flügeltür, sondern muss weiter in seiner Hinterhausbuchte versauern. Und grollt dann über den Westler.

Ob genetischer Gefühlsstau oder gelerntes Gemeckere: Der Osten hat ein Aussprechproblem, insgesamt eine heftige Kommunikationsstörung. Die Lösung für den Osten kann nur heißen: Klappe auf, wenn ihr was wollt, ansonsten: Maul halten, glücklich sein. Denn zum Glücklichsein gehört ja laut überlieferter Ostdefinition nicht viel: Wärme, Hände schütteln, Schultern klopfen und Solidarität (meint: nachbarschaftlicher Austausch von Schlagbohrmaschinen). Das alles verhindert kein System der Welt, nicht die Deutsche Bank, nicht mal Edmund Stoiber. Als die rheinische Chefarztgattin Luise Endlich nach ihrem Umzug nach Frankfurt (Oder) ihren Kulturschock verdaut hatte und in diesem Sommer ihren Erfahrungsbericht Ost mit dem Buch „NeuLand“ veröffentlichte, ihre „Ganz einfachen Geschichten“ über die maulfaulen, verschlossenen Hillbillys und ihre strengen Sitten tief in der ostdeutschen Provinz, reagierte der Osten mit wütenden oder popeligen Protesten in der Heimatzeitung: „Tun wir uns den Gefallen, konformes Denken nicht auch noch mit einem Buchpreis zu honorieren, der bei 34 Mark liegt.“ Auch hier: die Melancholie beleidigter Leberwürste. Ein Gegenroman, -artikel oder -film, der den Kleinanleger-, Mittelklassewagen-, Toskana-, selbstgefälligen Achtundsechziger-, Selbstdarstellungs- oder Unterhaltungswahn der Westdeutschen auseinandernimmt, ist nicht angekündigt und auch nicht zu erwarten. Wir können nicht anders.

Andreas Lehmann, 35, ist Autor in Berlin; er hat vier Jahre lang Journalismus am sogenannten Roten Kloster in Leipzig studiert