Uns fehlt der Mut zum Risiko“

Petre Uhl, heute 57 Jahre, machte während des Prager Frühlings 1968 von sich reden, als er politische Vorstellungen vertrat, die auch die unabhängige Linke im Westen vertrat. Dafür kassierte er fünf Jahre Gefängnis. Als Mitautor der „Charta 77“ wurde er erneut fünf Jahre eingesperrt. Heute ist er Menschenrechtsbeauftragter der sozialdemokratischen Minderheitsregierung Tschechiens. Er schildert die zehn Jahre Wende in seinem Land im Gespräch mit Ulrike Braun

taz: Zehn Jahre sind seit der „Samtenen Revolution“ in Ihrem Land vergangen. Welche Schritte wurden in dieser Zeit in der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der Tschechischen Republik gemacht?

Petre Uhl: Es gab sehr viel Positives, angefangen bei den Verhandlungen mit der Kommunistischen Partei im Jahre 1989 oder der Streichung der Führungsrolle der Partei als Verfassungsprinzip. Noch 1988 habe ich gefordert, vier staatliche Institutionen abzuschaffen: die Führungsrolle der Partei, die Volksmiliz, die Staatssicherheit und die Funktion des Präsidenten. Anderthalb Jahre später hatten sich drei dieser Forderungen erfüllt. In unserem Land haben wir jetzt ein pluralistisches politisches System, und grundsätzliche Menschenrechte sind gewährleistet, was für mich persönlich am wichtigsten ist. Es gibt Rede-, Reise- und Glaubensfreiheit, und die Gesellschaft ist nicht verelendet. Positiv ist also der gesamte Trend der letzten zehn Jahre von der Diktatur zur Demokratie.

Ist die Gesellschaft in Tschechien nun schon eine Bürgergesellschaft, oder ist sie noch auf dem Weg dorthin?

Die Bürgergesellschaft hat sich bei uns langsamer entwickelt als die parlamentarische Demokratie. Das kommunistische Regime hat die Tradition der Interessengemeinschaften, Klubs oder Bürgerbewegungen, die es früher bei uns gab, unterbrochen. Das kann sich jetzt nur schwer erneuern. Es gibt hier weniger Bürgerinitiativen als zum Beispiel in Deutschland, Frankreich oder Polen. Die Tschechen sind auch nicht besonders kirchlich orientiert, deshalb gibt es kaum Initiativen, die von der Kirche ausgehen. Um verfassungsrechtliche Angelegenheiten, wie die Durchführung von Volksabstimmungen oder den Einsatz von Ombudsmännern, kümmern sich die Menschen hier kaum. Weitaus mehr als im Westen verlassen sie sich auf den Staat, darauf, dass der Präsident, Abgeordnete und Senatoren schon alles für sie erledigen werden. Die Idee, dass sich die Menschen selbst organisieren müssen, um etwas zu erreichen, setzt sich bei uns nur sehr langsam durch.

Es ist aber nicht fair, Tschechien mit Deutschland oder Frankreich zu vergleichen, wo sich die Gesellschaft länger und freier entwickeln konnte als hier.

Fair ist dieser Vergleich vielleicht nicht. Aber wir müssen ihn anstellen, schließlich wollen wir Mitglied der Europäischen Union werden. Die Verspätung in unserer gesellschaftlichen Entwicklung bedeutet ja nicht, dass wir Tschechen schlechte Menschen sind. Aber wir müssen die Unterschiede beim Namen nennen. Erst dann können wir einen Weg finden, sie zu beseitigen.

Wie beeinflusst das Erbe der Diktatur die gesellschaftliche Entwicklung des Landes weiter?

Die Folgen der Diktatur liegen darin, dass sich unsere gesellschaftliche Entwicklung um vierzig Jahre verspätet hat. In Westeuropa entwickelte sich die Gesellschaft vor allem seit den Sechzigerjahren hin zum Antiautoritären, zum besseren Schutz von Menschenrechten und zur Emanzipation des Menschen an sich. Von den Prozeduren und Regeln des totalitären Systems, seinen Befehlen und Verboten ist natürlich nicht viel übrig geblieben. Was übrig geblieben ist, ist diese mindestens zwanzigjährige Verspätung in der freiheitlichen Entwicklung unserer Gesellschaft. Und es fällt uns nun schwer, sie aufzuholen. Das ist vielleicht das schlimmste Erbe der Diktatur.

Und auf menschlicher, auf persönlicher Ebene? Welche Spuren hat die Diktatur da hinterlassen?

Die findet man zum Beispiel noch in der staatlichen Verwaltung. Eher als dem Bürger zu dienen, glauben da viele noch, über ihm zu stehen und so über sein Schicksal zu entscheiden. Das ist so eine grundsätzliche Einstellung, die sich bis heute noch immer nicht ganz geändert hat. Wir wissen natürlich, wie es anderswo ist, weil sich uns schon Türen geöffnet haben, weil sich Europa uns schon geöffnet hat. Aber es wird noch lange dauern, bis sich diese Gesellschaft geöffnet hat und demokratischer handeln wird.

Fehlt der tschechischen Gesellschaft vielleicht eine gewisse Orientierung?

Vielleicht fehlt uns eine gewisse Orientierung, die in verschiedenen Nationalgesellschaften als automatischer Antrieb der gesellschaftlichen Entwicklung dient. Ich denke da zum Beispiel an die antitotalitäre Orientierung Deutschlands, die kulturelle Orientierung Frankreichs oder auch den britischen Rationalismus. Wir haben auch keine religiöse Orientierung, weil die Tschechen wohl das atheistischste Volk Europas sind. Trotzdem finde ich, sollte die Kirche eine wichtigere Rolle in unserer Gesellschaft spielen, weil sie es, und ich kenne das aus der ehemaligen DDR, schafft, Menschen zu aktivieren. Persönlich wichtig scheint mir unsere Orientierung in Richtung EU. Andererseits gefällt es mir überhaupt nicht, dass hier bei uns EU-Gegner gleich als Verräter an der Nation dargestellt werden.

Wie bewältigen die Tschechen denn ihre jüngere Vergangenheit? Tun sie sich da nicht etwas schwer?

Da sind die Haltungen ganz verschieden. Ich glaube nicht, dass die Mehrheit ein allzu großes Interesse an ihrer Geschichte hat. Es gibt natürlich eine kleine Anzahl von Leuten, die unsere Vergangenheit als rechtlich nicht abgeschlossen betrachten und die Täter von damals gerichtlich zur Rechenschaft ziehen wollen. Die Menschen dienten diesem System, sie haben sich nicht dagegen gestellt. Vielen von ihnen fällt es schwer, sich zu erinnern, warum sie damals nicht die Hand gehoben haben, wenn jemand bedroht wurde, warum sie nicht protestiert haben, wenn jemand nicht ins Ausland durfte oder wenn junge Leute nicht studieren durften. Es gab so viele dieser kleinen Repressionen.

Aber es gab auch die Zeit zwischen 1963 und 1969/70, als Tausende, sogar Hunderttausende versucht haben, dieses System demokratisch zu ändern. Und natürlich auch wieder andere, die sie davon abhielten. Das war die Zeit einer gewissen Freiheitsentfaltung, ähnlich wie damals in Westeuropa. Denn es gab hier gesellschaftliche Gruppierungen, die versucht haben, das System zum Besseren zu ändern. Es stört mich wirklich, wenn die Leute hier so dahinleben, ohne die geschichtlichen Zusammenhänge zu begreifen. Das Nichtauseinandersetzen mit dem Stalinismus der Fünfzigerjahre, der innerhalb der Gesellschaft zu einem moralischen Verfall geführt hat, der sich in den Siebziger- und Achtzigerjahren besonders gezeigt hat, hängt zusammen mit der Xenophobie und dem Isolationismus, die heute in diesem Land herrschen.

Totalitäre Systeme rufen natürlich immer eine Reaktion hervor, in der Menschen oft über sich hinausgehen, angeregt werden, kreativer zu sein oder etwas zu riskieren. Fehlt da heutzutage von diesen Tugenden nicht etwas?

Alles Böse bringt immer etwas Gutes mit sich, und das totalitäre Regime hier hat natürlich Widerstand hervorgerufen. In diesem Widerstand spiegelten sich viele Elemente der Freiheit wider. Diejenigen, die dem System entgegenstanden, haben sich selbst dafür eingesetzt. Das war nicht ohne Risiken.

Heute kann jeder sagen, was er will ...

... ja, wir sind frei, aber niemand braucht etwas zu riskieren. Der Kampf für die Freiheit des Menschen ist immer verbunden mit dem Einsatz der eigenen Person. Das fehlt jetzt ein bisschen, aber vielleicht, in gewissen Situationen kommt die Zeit, in der wir auf unsere Erfahrungen zurückgreifen können. Für mich persönlich zählt vor allem, ob jemand den Mut, hat zu seiner Meinung zu stehen, auch Risiken einzugehen. Aber ich bin auch geformt von diesen Jahren.

Ulrike Braun, 37, lebt und arbeitet seit mehreren Jahren als freie Autorin in Prag, u.a. für die taz und andere deutschsprachige Druckerzeugnisse